Metadaten

Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0054
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
52

Ernst A. Schmidt

einer bei aller Mischung und Zusammensetzung einheitlichen Identi-
tätsaussage. Fränkels Vergleich (im Zusammenhang mit Hercules) mit
Tertullians christologischer Formel der zwei Naturen37 geht, so will mir
scheinen, ganz am ovidischen Hercules vorbei, sowohl an dessen We-
sen als seiner objektiven Identität als auch erst recht an dessen Selbst-
gefühl, wie schließlich an dem Prozeß seiner Apotheose (met. 9,229-
272).38
Der Kentaur Chiron, als solcher „geminus“ und „semifer“ (met. 2,630
und 633), hat ebensowenig Identitätskrisen wie die ungemischten We-
sen. Als seine Tochter Ocyrhoe in eine Stute verwandelt wird und neue
Lust an Gras und Galopp verspürt, beruft sie sich auf das „biformis“-
Sein ihres Vaters (v. 661-664). Dies aber gerade nicht als auf eine Analo-
gie zu zerrissener Identität - mit noch menschlichem Bewußtsein regi-
strierte Ocyrhoe in sich Pferdetriebe-, sondern als Argument gegen to-
tales Pferdsein: als Tochter eines Pferdemenschmischwesens hält sie es
für ungerechtfertigt, nur Pferd zu sein. Die Verse haben mit Ichspaltung
Chirons nichts zu tun.
Mit der Apotheose des Hercules und der Verwandlung der Ocyrhoe
sind wir bereits zum zweiten Punkt übergegangen, der Frage nach Iden-
titätskrisen während und nach der Metamorphose. Die Metamorphose
selbst ist nun in der Tat ein Phänomen, das die Frage nach dem ovidi-
schen Interesse im Zusammenhang der Identitätsproblematik nahelegt.
Durch die Verwandlung werden ja zwei verschiedene Wesen narrativ in
einen genetischen Zusammenhang miteinander gebracht. Hier müssen
wir den Prozeß der Metamorphose und ihr Resultat gesondert betrach-
ten.
Im Prozeß der Verwandlung - und alle Verwandlungen gehen bei
Ovid sehr schnell - kann es, für einen kurzen Moment, eine Spannung
geben zwischen der Fortdauer des alten Selbstbewußtseins und der
neuen Identität. Ein gutes Beispiel ist Ocyrhoe; ein anderes etwa die
Überraschung der Heliaden, die in Pappeln verwandelt werden, als sie
das Starrwerden ihrer Füße, das Wurzelschlagen notieren oder beim
Raufen ihrer Haare Blätter in den Händen halten {met. 2,345 ff.). Solche
Fälle sind selten, ihre Darstellung immer kurz und ohne den Reichtum
und Ernst der vor der Verwandlung dargestellten psychischen und mo-
ralischen Konflikte. Ich kann im Prozeß der Verwandlung kein Symbol
37 Fränkel (1945), Ovid, S. 81 f. mit 212.
38 Vgl. Lieberg (1970), Apotheose in Metamorphosen, S. 126, Anm. 1: „kein glücklicher
Gedanke“.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften