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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0053
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Ovids poetische Menschenwelt

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solcher seelischer Konflikte, mit der Erfahrung der Spannung, mit Hin-
und Hergerissenwerden, mit Kampf und Niederlage, vor und bei Ovid,
so etwas wie eine schwankende oder gespaltene Identität gegeben sei,
muß klar verneint werden. Wie etwa die euripideische Medea haben
auch die ovidischen Figuren sowohl in der Außen- wie in der Innenper-
spektive, im Ichgefühl und im Selbstbewußtsein, in der Selbstidentifika-
tion, eine durchaus klare und eindeutige Identität.3'’ Auch im Bravour-
stück der Darstellung gegenstrebiger Motive, in dem Hin und Her zwi-
schen Mutterliebe (zu Meleager) und Schwesternpflicht (zur Rache der
Ermordung ihrer Brüder durch ihren Sohn) in Althaea (met. 8,460-512),
wird ein Konflikt Gestalt, nicht zerrissene Identität. Vgl. Theognis, v.
909-912:
δ δή καί έμοί μέγα πένθος δρωρεν
καί δάκνομαι ψυχήν καί δίχα Φυμόν έχω.
έν τριόδω δ’ έστηκα. δύ’ είσί τό πρόσΐΐεν οδοί μοι.
φροντίζω τούτων ήντιν’ ϊω προτέρην.
Fränkel hat den Nerv ovidischen Interesses getroffen - die Psycholo-
gie von Menschen in Extremsituationen -, aber er hat dessen Deutung
verfehlt. Das zeigt sich besonders daran, daß er das Phänomen der Ich-
Spaltung nicht nur in seelischen und moralischen Konflikten, also als
psychologischen Befund, sondern auch bei äußerlichen mythologischen
Sachverhalten vorzufinden glaubt, z.B. bei Minotaurus, dem monströ-
sen Misch wesen, wie es aus der Vereinigung von Stier und Frau (Pasi-
phae) hervorging.35 36 Solche Misch- und Doppelwesen heißen traditionell
διφυής, biformis, geminus; und so auch bei Ovid. Alle seine Äußerun-
gen über den Minotaurus (met. 8,155ff.) sind bloße Umschreibungen
dieser Adjektive und haben weder mit der äußeren Identität noch mit
dem Identitätsbewußtsein des kretischen Monstrums irgendetwas zu
tun. Heißt es her. 10,102: „parte virum [. . .] parte bovem“, so ist damit
keine Spaltung, sondern ebenso eine Identität in einem Individuum be-
zeichnet wie in „taurique virique“ (her. 10,127) oder in „tauri mixtaque
forma viri“ (her. 2,70). Und die tollste Umschreibung, ars 2,24: „semi-
bovemque virum semivirumque bovem“ ist sogar die eindeutigste Form
35 Die beiden in der vorigen Anm. genannten Epigramme haben neben und über dem
concetto der Seelenhälften bzw. des Geschenks (oder Verlusts) des Herzens ein mit
Selbstverständlichkeit redendes und handelndes einheitliches Ich.
36 Fränkel (1945), Ovid, S. 183.
 
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