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Ernst A. Schmidt
Kapitel 2: Metamorphosen als Aitiologie für die metaphorische Qua-
lität des Seienden. Narrative und metaphorische Funktion
der Metamorphose
§ 9 Metamorphosen als Aitiologie für den Metaphernstatus der Welt.
Spiel mit Ähnlichkeiten
Man wird den Metamorphosen nicht gerecht, wenn man nur auf die
Verwandlungen schaut und in ihnen das eigentliche Thema des Werkes
sieht. Daher ist die Entschiedenheit zu begrüßen, mit der Galinsky im-
mer wieder darauf insistiert: die Metamorphosen „are not about meta-
morphosis“.1 Wovon aber handeln sie sonst, und was hat die Metamor-
phose damit zu tun?
In der Kritik an Zinn und Fränkel in den §§ 7 und 8 habe ich für meine
Deutung einige Elemente bereitgestellt. Gegenstand, Held und Thema
des Gedichts ist der Mensch, die Menschheit aller Zeiten, der Mensch in
einer Riesenfülle verschiedenster Charaktere und Schicksale, aber ohne
historische Differenzierung, der Mensch ohne Geschichte. An die Stelle
des einen Helden der Epen homerischer Tradition tritt die Vielfalt des
Menschen, in welcher der Mensch aber immer als Mensch betrachtet
wird. Im Menschen aller Zeiten findet das ovidische Gedicht eine den
homerischen Epen gegenüber sekundäre Einheit und zugleich eine grö-
ßere Universalität. Die Menschen der ovidischen Dichtung sind nach
ihrem Charakter in ihrer Geschichte klare, eindeutige, festgeprägte Fi-
guren, mit einheitlichem Identitätsbewußtsein, ohne Entwicklung, un-
veränderlich. Die Verwandlung ist ein einmaliger Umschlag; die neue
Gestalt klar, eindeutig, festgeprägt und dazu stabil, bleibend, ewig: das
Sternbild des Großen Bären, die Spinne, der Lorbeer.
Der Satz, Ovids Metamorphosen, d.h. Verwandlungen, hätten nicht
Veränderung und Veränderlichkeit, nicht Wechsel und Fluß zum
Thema oder zur weltanschaulichen Voraussetzung, ist nicht als parado-
xes Apergu gemeint, sondern als durchaus eigentlich zu verstehende
Aussage. Das Paradox, nämlich angesichts von 250 Verwandlungsge-
schichten, ist nur scheinbar, wenn man sich vergegenwärtigt: Götter,
1 Galinsky(1975), Ovid’s Metamorphoses, S. 3. Vgl. S. 10. 61. 69.
Ernst A. Schmidt
Kapitel 2: Metamorphosen als Aitiologie für die metaphorische Qua-
lität des Seienden. Narrative und metaphorische Funktion
der Metamorphose
§ 9 Metamorphosen als Aitiologie für den Metaphernstatus der Welt.
Spiel mit Ähnlichkeiten
Man wird den Metamorphosen nicht gerecht, wenn man nur auf die
Verwandlungen schaut und in ihnen das eigentliche Thema des Werkes
sieht. Daher ist die Entschiedenheit zu begrüßen, mit der Galinsky im-
mer wieder darauf insistiert: die Metamorphosen „are not about meta-
morphosis“.1 Wovon aber handeln sie sonst, und was hat die Metamor-
phose damit zu tun?
In der Kritik an Zinn und Fränkel in den §§ 7 und 8 habe ich für meine
Deutung einige Elemente bereitgestellt. Gegenstand, Held und Thema
des Gedichts ist der Mensch, die Menschheit aller Zeiten, der Mensch in
einer Riesenfülle verschiedenster Charaktere und Schicksale, aber ohne
historische Differenzierung, der Mensch ohne Geschichte. An die Stelle
des einen Helden der Epen homerischer Tradition tritt die Vielfalt des
Menschen, in welcher der Mensch aber immer als Mensch betrachtet
wird. Im Menschen aller Zeiten findet das ovidische Gedicht eine den
homerischen Epen gegenüber sekundäre Einheit und zugleich eine grö-
ßere Universalität. Die Menschen der ovidischen Dichtung sind nach
ihrem Charakter in ihrer Geschichte klare, eindeutige, festgeprägte Fi-
guren, mit einheitlichem Identitätsbewußtsein, ohne Entwicklung, un-
veränderlich. Die Verwandlung ist ein einmaliger Umschlag; die neue
Gestalt klar, eindeutig, festgeprägt und dazu stabil, bleibend, ewig: das
Sternbild des Großen Bären, die Spinne, der Lorbeer.
Der Satz, Ovids Metamorphosen, d.h. Verwandlungen, hätten nicht
Veränderung und Veränderlichkeit, nicht Wechsel und Fluß zum
Thema oder zur weltanschaulichen Voraussetzung, ist nicht als parado-
xes Apergu gemeint, sondern als durchaus eigentlich zu verstehende
Aussage. Das Paradox, nämlich angesichts von 250 Verwandlungsge-
schichten, ist nur scheinbar, wenn man sich vergegenwärtigt: Götter,
1 Galinsky(1975), Ovid’s Metamorphoses, S. 3. Vgl. S. 10. 61. 69.