Ovids poetische Menschenwelt
57
Menschen, Menschenart und Menschenschicksal, bleiben durch die
ganze Dichtung hindurch die gleichen2; über zwölftausend Verse hin
besteht die Welt unverändert als die sie geschaffen wurde; alle Ver-
wandlungen sind endgültig und bestehen zum Teil ,seit Anbeginn1, wie
Wolf und Lorbeer. Man hat die Metamorphosen vor dem 20. Jahrhun-
dert auch nie als Dichtung von Wandel und Veränderung gelesen, son-
dern immer als Schatzhaus von Geschichten, die etwas über den Men-
schen sagen. „Ex quo Deucalion nimbis tollentibus aequor / navigio
montem ascendit sortesque poposcit / paulatimque anima caluerunt mol-
lia saxa / et maribus nudas ostendit Pyrrha puellas,/ quidquid agunt homi-
nes, votum, timor, ira, voluptas, / gaudia, discursus [. . .]“: all das ist der
Inhalt der Metamorphosen, und trotz der Angabe, ,seit es Menschen
gibt4 auch bei Ovid nicht historischer orientiert als die Satiren Juvenals,
deren Mischfutter („farrago“) in jenen Versen beschrieben wird (Juve-
nal, sat. 1,81-86).
Was hat Metamorphose zu bedeuten? Ich gehe, wiederum in kriti-
scher Absicht, nochmals von einem Zitat Ernst Zinns aus, nämlich sei-
ner großartigen Charakteristik der Metamorphosem, er spricht von dem
„nie abreißenden Reigen der ins Element Erlösten, der ins Außer-
menschliche Entrückten“.3 Daran ist doch einiges problematisch. Bei
„Erlösung ins Element“ denkt man an Befreiung und an Auflösung. Der
erstere Aspekt trifft nur eine unter verschiedenen narrativen Funktio-
nen der Metamorphose, den der Rettung, Befreiung, auch Erlösung.
Andere Funktionen gleicher Kategorie sind etwa Strafe, Rache, Lohn.
Der zweite Aspekt, die erlösende Auflösung ins Element, hat den ro-
mantisch-pantheistischen Beigeschmack der „Wonne des Zergehens in
der Natur“, der „Wollust der Vereinigung mit der bewußtlosen Natur“.
Wolf-Hartmut Friedrich hat zu Recht betont, daß es das bei Ovid nicht
gibt·4
Also nicht ,Erlösung ins Element4, nicht ,Entrückung ins Außer-
menschliche4, sondern Verwandlung in eine Form, in eine Gestalt.
2 Vgl. Holzberg (1988), Einführung in Metamorphosen, S. 733: „innerhalb des ständig sich
vollziehenden Verwandlungsprozesses in der belebten und unbelebten Natur bleibt nur
eines konstant: die Psyche des Menschen, die, seit der Schöpfung unverändert, vor allem
von negativen Regungen wie Machttrieb und zerstörerischer sexueller Leidenschaft be-
herrscht ist“. Holzberg zitiert glücklich aus Goethes „Prolog im Himmel“ zum Faust I:
„Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag / Und ist so wunderlich als wie
am ersten Tag.“
3 Zinn (1958/67), Zweitausendjahrfeier, S.23f.
4 Friedrich (1953), Kosmos Ovids, S. 368f.
57
Menschen, Menschenart und Menschenschicksal, bleiben durch die
ganze Dichtung hindurch die gleichen2; über zwölftausend Verse hin
besteht die Welt unverändert als die sie geschaffen wurde; alle Ver-
wandlungen sind endgültig und bestehen zum Teil ,seit Anbeginn1, wie
Wolf und Lorbeer. Man hat die Metamorphosen vor dem 20. Jahrhun-
dert auch nie als Dichtung von Wandel und Veränderung gelesen, son-
dern immer als Schatzhaus von Geschichten, die etwas über den Men-
schen sagen. „Ex quo Deucalion nimbis tollentibus aequor / navigio
montem ascendit sortesque poposcit / paulatimque anima caluerunt mol-
lia saxa / et maribus nudas ostendit Pyrrha puellas,/ quidquid agunt homi-
nes, votum, timor, ira, voluptas, / gaudia, discursus [. . .]“: all das ist der
Inhalt der Metamorphosen, und trotz der Angabe, ,seit es Menschen
gibt4 auch bei Ovid nicht historischer orientiert als die Satiren Juvenals,
deren Mischfutter („farrago“) in jenen Versen beschrieben wird (Juve-
nal, sat. 1,81-86).
Was hat Metamorphose zu bedeuten? Ich gehe, wiederum in kriti-
scher Absicht, nochmals von einem Zitat Ernst Zinns aus, nämlich sei-
ner großartigen Charakteristik der Metamorphosem, er spricht von dem
„nie abreißenden Reigen der ins Element Erlösten, der ins Außer-
menschliche Entrückten“.3 Daran ist doch einiges problematisch. Bei
„Erlösung ins Element“ denkt man an Befreiung und an Auflösung. Der
erstere Aspekt trifft nur eine unter verschiedenen narrativen Funktio-
nen der Metamorphose, den der Rettung, Befreiung, auch Erlösung.
Andere Funktionen gleicher Kategorie sind etwa Strafe, Rache, Lohn.
Der zweite Aspekt, die erlösende Auflösung ins Element, hat den ro-
mantisch-pantheistischen Beigeschmack der „Wonne des Zergehens in
der Natur“, der „Wollust der Vereinigung mit der bewußtlosen Natur“.
Wolf-Hartmut Friedrich hat zu Recht betont, daß es das bei Ovid nicht
gibt·4
Also nicht ,Erlösung ins Element4, nicht ,Entrückung ins Außer-
menschliche4, sondern Verwandlung in eine Form, in eine Gestalt.
2 Vgl. Holzberg (1988), Einführung in Metamorphosen, S. 733: „innerhalb des ständig sich
vollziehenden Verwandlungsprozesses in der belebten und unbelebten Natur bleibt nur
eines konstant: die Psyche des Menschen, die, seit der Schöpfung unverändert, vor allem
von negativen Regungen wie Machttrieb und zerstörerischer sexueller Leidenschaft be-
herrscht ist“. Holzberg zitiert glücklich aus Goethes „Prolog im Himmel“ zum Faust I:
„Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag / Und ist so wunderlich als wie
am ersten Tag.“
3 Zinn (1958/67), Zweitausendjahrfeier, S.23f.
4 Friedrich (1953), Kosmos Ovids, S. 368f.