Ovids poetische Menschenwelt
109
Kapitel 2: Götterstrafe und Götterzorn
§ 24 Vorbereitung des Themas im Bereich der Götterliebe
In met. 6,3-402 liegt eine geschlossene Folge von vier thematisch ver-
wandten und auch thematisch verbundenen Verwandlungsgeschichten
vor, in denen jeweils göttliche Strafe menschliche Anmaßung oder Fre-
vel gegen Götter ahndet (Arachne, Niobe, lykische Bauern, Marsyas).
Diese Erzählungsfolge wird man nicht als eine Sektion abteilen und
isolieren dürfen, sondern als eine thematische Verdichtung ansehen
können, mit der man entweder den Dominanzbereich des Themas um-
schreiben oder die man doch dem Dominanzbereich zuweisen kann.
Man wird die Dominanzphase oder -phasen etwas weiter ansetzen dür-
fen: das Thema Götterzorn und Götterstrafe scheint zumal in der Ge-
dichtgegend Gestalt zu finden, die Otis als Sektion „The Avenging
Gods“ (met. 3,1-6,400) abgrenzt.1 Die größte Intensität aber hat es of-
fenbar da erhalten, wo sich Großteil 5 von Ludwig, „Menschliche, die
Gottheit herausfordernde Anmaßung, göttlicher Zorn und gottgesandte
Strafe“ (met. 5,250/268-6,420)2, die von Steiner zu einer thematischen
Gruppe zusammengefaßten Erzählungen von Pyreneus an (met. 5,273-
293) bis zu Marsyas (met. 6,382 bis 400)3 und Section II von Otis über-
schneiden.
Wie wird diese Dominanzphase von Ovid vorbereitet? Wie entwickelt
sich das Thema Götterzorn und Götterstrafe aus dem Thema, dessen
intensivste und extensivste Ausprägung schon drei Bücher zurückliegt,
der Götterliebe zu sterblichen Frauen?
Das Thema ist bereits in der Ouvertüre voll präsent. Der Bösewicht
Lycaon, Verächter der Götter, Blut- und Gewaltmensch, wird bestraft.
Verbrechen und Strafe stehen im Zusammenhang mit dem Blutvergie-
ßen im Eisernen Zeitalter, der Rückkehr der Astraea Virgo in den
Himmel, der Empörung der Giganten und ihrer Überwältigung durch
1 In met. 3,1-6,400 kommen „ira“ und „poena“ 22 bzw. 17 mal, d. h. je einmal in 119 bzw.
154 Versen vor, im übrigen Werk 59 bzw. 44 mal, d. h. je einmal in 156 bzw. 213 Versen;
die Proportionen für die größere Dichte sind 156:119 ~ 4:3 bzw. 213:154 ~ 4:3.
2 Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 38.
3 Vgl. Steiner (1958), Carmen perpetuum, S. 225 f.
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Kapitel 2: Götterstrafe und Götterzorn
§ 24 Vorbereitung des Themas im Bereich der Götterliebe
In met. 6,3-402 liegt eine geschlossene Folge von vier thematisch ver-
wandten und auch thematisch verbundenen Verwandlungsgeschichten
vor, in denen jeweils göttliche Strafe menschliche Anmaßung oder Fre-
vel gegen Götter ahndet (Arachne, Niobe, lykische Bauern, Marsyas).
Diese Erzählungsfolge wird man nicht als eine Sektion abteilen und
isolieren dürfen, sondern als eine thematische Verdichtung ansehen
können, mit der man entweder den Dominanzbereich des Themas um-
schreiben oder die man doch dem Dominanzbereich zuweisen kann.
Man wird die Dominanzphase oder -phasen etwas weiter ansetzen dür-
fen: das Thema Götterzorn und Götterstrafe scheint zumal in der Ge-
dichtgegend Gestalt zu finden, die Otis als Sektion „The Avenging
Gods“ (met. 3,1-6,400) abgrenzt.1 Die größte Intensität aber hat es of-
fenbar da erhalten, wo sich Großteil 5 von Ludwig, „Menschliche, die
Gottheit herausfordernde Anmaßung, göttlicher Zorn und gottgesandte
Strafe“ (met. 5,250/268-6,420)2, die von Steiner zu einer thematischen
Gruppe zusammengefaßten Erzählungen von Pyreneus an (met. 5,273-
293) bis zu Marsyas (met. 6,382 bis 400)3 und Section II von Otis über-
schneiden.
Wie wird diese Dominanzphase von Ovid vorbereitet? Wie entwickelt
sich das Thema Götterzorn und Götterstrafe aus dem Thema, dessen
intensivste und extensivste Ausprägung schon drei Bücher zurückliegt,
der Götterliebe zu sterblichen Frauen?
Das Thema ist bereits in der Ouvertüre voll präsent. Der Bösewicht
Lycaon, Verächter der Götter, Blut- und Gewaltmensch, wird bestraft.
Verbrechen und Strafe stehen im Zusammenhang mit dem Blutvergie-
ßen im Eisernen Zeitalter, der Rückkehr der Astraea Virgo in den
Himmel, der Empörung der Giganten und ihrer Überwältigung durch
1 In met. 3,1-6,400 kommen „ira“ und „poena“ 22 bzw. 17 mal, d. h. je einmal in 119 bzw.
154 Versen vor, im übrigen Werk 59 bzw. 44 mal, d. h. je einmal in 156 bzw. 213 Versen;
die Proportionen für die größere Dichte sind 156:119 ~ 4:3 bzw. 213:154 ~ 4:3.
2 Ludwig (1965), Struktur der Metamorphosen, S. 38.
3 Vgl. Steiner (1958), Carmen perpetuum, S. 225 f.