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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0047
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Sprachliche Texte - Genetische Texte

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die Homöobox'1. Zum Erstaunen der meisten Forscher fand sich
diese Homöobox jedoch nicht nur bei Genen einer bestimmten
Hierarchiestufe der Drosophila. Sie fand sich in weitgehend identi-
scher Form auch beim afrikanischen Krallenfrosch, bei Würmern,
bei der Maus und auch im menschlichen Genom - also bei Lebewe-
sen, die in der üblichen Klassifizierung der Biologen und Zoologen
gewissermaßen Lichtjahre voneinander entfernt sind.
Die Funktion dieser Homöobox dürfte zweifach sein: die erste
entspricht in etwa der, die im sprachlichen System die Zugehörig-
keit zu einer Wortart bedeutet. Sie ist also so etwas wie ein Form-
klassenmerkmal für solche Gene, die in einer sehr frühen Entwick-
lungsstufe der Morphogenese aktiviert, also „gelesen“ und in Pro-
teinketten übersetzt werden, und die damit die Entwicklung nach-
folgender, durch Zellteilung entstehender Zellen - und damit den
Prozeß der Morphogenese - in besonders augenfälliger Weise steu-
ern. Wenn solche Gene aktiviert und damit teils in Polypeptid-Ket-
ten umgesetzt werden, wird nun interessanterweise auch die
Homöobox mit ihren 180 Nukleotid-Paaren übersetzt in den ihr
entsprechenden Strang von 180 : 3 = 60 Aminosäuren des Homöo-
domänen-Proteins. Damit hängt ihre zweite Funktion zusammen.
Wir wissen, daß der genetische Lochstreifen linear ist - linear, was
die Information angeht, die abgelesen und in Polypeptid-Ketten
umgesetzt wird. Materiell gesehen hat er jedoch eine räumliche
Struktur: es handelt sich um einen Doppelwendel, um den - wie bei
einer Schraube - die beiden in Abbildung 1 erkennbaren unter-
schiedlich breiten Furchen {major und minor groove} laufen. Die
Sequenz von Aminosäuren, die der Abfolge von Nukleotiden in der
Homöobox entspricht, also die Homöodomäne, hat im Sinne des
obigen Abschnitts 2.3 eine eigene, spezifische Raumstruktur. Sie
enthält selbst eine Serie von vier Wendeln. Der dritte dieser Wendel
paßt in seiner Form und in seinen Bindevalenzen auf ein ganz spezi-
fisches Stück des - nun rein materiell, als dreidimensionale Form
interpretierten - genetischen Lochstreifens.
Das, was aus dem Gen mit dem Erkennungsmerkmal der
Homöobox in eine Polypeptid-Kette umgesetzt wurde, „erkennt“
damit - als das Protein der Homöodomäne - einen bestimmten Teil
des genetischen Lochstreifens, legt sich darauf und heftet sich
42 Da aus verständlichen Gründen auch in der Mikrobiologie abgekürzt wird, sei
auch die etablierte Kontraktion mit genannt: sie lautet „Hox“. Der Name
„Homöobox“ scheint von Walter J. Gehring zu stammen.
 
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