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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0046
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Wolfgang Raible

bzw. der Morphogenese angesprochen wurden. Alle vier Überle-
gungen haben plausibel gemacht, daß die Prinzipien der frühen
Ontogenese bei allen möglichen Gattungen und Arten der Vielzel-
ler mehr oder weniger ähnlich sein dürften.
Die dafür eingesetzten Mittel sollen nun aus der Sicht des
Sprachwissenschaftlers skizziert werden.
5.1 Homöotische Gene als Formklasse und als hierarchiehöhere
metakommunikative Signale
Einer der wichtigsten Grundsätze in der Forschung mit lebenden
Systemen lautet: pathologia illustrat physiologiam. Wie etwas nor-
mal funktioniert, kann man gerade an solchen Fällen erkennen, die
von der Normalität abweichen.In der Genetik ist ein klassischer Fall
damit die Untersuchung von Mutationen. Bei der Drosophila sind,
wie aus Abbildung 8, Phase 4 hervorgeht, die Flügel ein Teil des
zweiten Thorax-Rings. Dort, wo am zweiten Thorax-Ring die Flügel
sind, sind am dritten (T3) kleine Stummel, sogenannte Halteren
oder Balance-Organe. Es gibt nun eine erstmals 1915 beobachtete
Mutation, bei der auch die Halteren flügelähnliche Züge anneh-
men. Solche Mutationen heißen homöotisch - opoiocö heißt „gleich-
machen, ähnlich machen“41. Nimmt man an, daß es im genetischen
Code Funktionseinheiten - die sogenannten Gene - gibt, die solche
Entwicklungen steuern, so kann man diejenigen Gene, die homöo-
tischen Mutationen zugrundeliegen, auch homöotische Gene nen-
nen. Solche Gene haben in der Regel enorme Auswirkungen bei
Mutationen. Das Gen mit Namen antennapedia führt, wenn es in
bestimmter Weise mutiert, z.B. dazu, daß die ausgewachsene
Fruchtfliege statt der Antennae bzw. Fühler am Kopf zwei zusätzli-
che Beine hat.
Durch die Fortschritte in der Technik des Klonens kann man nun
seit Beginn der 80er Jahre solche Gen-Komplexe lokalisieren,
kopieren und vor allem analysieren - der antennapedia-¥&m]AQx
umfaßt z.B. etwa 100.000 Zeichen auf dem genetischen Lochstrei-
fen der DNS. Ende 1983 fanden William McGinnis im Laborato-
rium von Walter Gehring in Basel, und unabhängig davon Matthew
P. Scott von der University of Colorado, daß eine ganze Reihe solcher
homöotischer Gene der Drosophila eine Sequenz von 180 Nukleo-
tid-Paaren aufweist, die weitgehend identisch ist. Man nannte sie

41 Vgl. Bateson 1894: 85 (zitiert nach Lawrence 1992: 223).
 
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