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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0036
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28

Wolfgang Raible

4.2.2 Onto- bzw. Morphogenese
Auch bei der zweiten Quelle indirekter Informationen über die
ganz selektive Natur der Umsetzung des Genoms in den einzelnen
Zellen gehe ich von den Ergebnissen der Lektüre aus, bleibe jedoch
im Bereich der embryonalen Entwicklung einer einzigen Gattung.
Die Entwicklungsbiologen haben bevorzugte Untersuchungsge-
genstände: Für die Wirbeltiere handelt es sich um den afrikani-
schen Krallenfrosch Xenopus laevis', bei den Insekten ist es die
Fruchtfliege Drosophila melanogaster, am unteren Ende der Euka-
ryoten sind es Hefezellen. Bei den Mikroben, die als Einzeller und
Prokaryoten ohnehin leichter zu studieren sind, handelt es sich ins-
besondere um ein allgegenwärtiges Bakterium aus unserem Darm-
trakt, die Escherichia coli19. Die ersten aufschlußreichen Entdeckun-
gen stammen aus dem Jahr 1918. Damals hat ein amerikanischer
Biologe von der Yale University, Ross G. Harrison, damit begonnen,
im Embryo zukünftiger Kaulquappen Gewebe zu verpflanzen29 30.
Wenn das Gewebe, das in einen seitlichen Teil verpflanzt wurde, aus
einem bestimmten Gebiet des Mesoderm kam, hatte die Kaul-
quappe z.B. ein zusätzliches Vorderglied. Analoge Experimente
führte der Freiburger Biologe Hans Spemann seit 1903 durch. Ent-
scheidend war dabei ein Experiment, mit dem insbesondere seine
Schülerin Hilde Mangold 1923 promovierte. Dabei wurde Gewebe
aus einem bestimmten Bereich des in der Phase der Gastrulation
befindlichen Embryos eines Molchs in eine andere Region eines
anderen Molchembryos der gleichen Entwicklungsphase ver-
pflanzt. Da beide Molchembryonen verschieden pigmentierte Zel-
len besaßen, ließ sich der Anteil des eingepflanzten Gewebeteils an
der künftigen Entwicklung des Molchembryos schon rein optisch
genau feststellen. Der „Organisatoreffekt“, den er auf diese Weise
entdeckte, brachte Spemann 1935 einen Nobelpreis ein: in
bestimmten Fällen induzierte das eingepflanzte Gewebe seine
29 Alle haben den Vorteil von schnellen oder zumindest zufriedenstellenden
Reproduktionszyklen; der Krallenfrosch ist außerdem für seine wundersame
Fruchtbarkeit bekannt (das Weibchen legt zu jeder beliebigen Jahreszeit 1500
Eier), die Drosophila u.a. für die (polytänen) Riesenchromosomen in ihren
Speicheldrüsen.
30 Siehe z.B. Eddy De Robertis / Guillermo Oliver / Christopher V. E. Wright 1990:
26f. - Klaus Sander hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß der Sache nach
W.H. Lewis diese Entdeckung schon 1906 gemacht hat, daß sie ihm jedoch gar
nicht bewußt wurde.
 
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