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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0016
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Wolfgang Raible

1 Schrift als Modell
Am Anfang soll ein kleiner wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs
stehen. Anaxagoras hat uns eine auf den ersten Blick kryptische
Aussage hinterlassen: „Die Sicht des Unsichtbaren sind die Phäno-
mene“ - öi|n<; ötötjÄcov rä <paivop.eva. Wie Hans Diller gezeigt hat,
enthält dieses Fragment eine Maxime, die von den Vorsokratikern
häufig angewandt wurde: um die Dinge zu verstehen, die wir weder
sehen noch unterscheiden können (rd 6cör|Xa), machen wir uns
Modelle zunutze, die der sichtbaren Welt (ra <patv6|ieva) entlehnt
sind2.
Die Atomisten unter den Vorsokratikern, Leukipp und Demo-
krit, zitieren dieses Wort im fünften vorchristlichen Jahrhundert
nicht nur beifällig. Sie sind ihm selbst verpflichtet. Die Vielfalt der
uns umgebenden Welt und der damit zusammenhängenden Sin-
neseindrücke seien, so sagen sie, nur Schein. In Wirklichkeit
bestehe alles aus - uns unsichtbaren - Atomen und leerem Raum
dazwischen. Nach dem Referat, das uns Aristoteles von ihrer Lehre
gibt, war nun ihr erkenntnisleitendes Modell dasjenige der Alpha-
betschrift. Die Atome unterscheiden sich nach ihrer Vorstellung
nämlich durch dreierlei: Durch die Form - so wie sich etwa ein A
von einem N unterscheidet; dann durch die relative Abfolge'. AN
bedeutet ja etwas anderes als NA; schließlich durch die Orientie-
rung im Raum: ein N ergibt, wenn man es um 90 Grad dreht, ein Z3.
Die sichtbaren Buchstaben des Alphabets, im griechischen Stoicheia
genannt, bilden also das sichtbare Modell, das uns anschaulich und
verständlich machen soll, wie die für uns unsichtbaren Atome -
andere Stoicheia - funktionieren. Aus der begrenzten Zahl von
Buchstaben läßt sich ja, das steht dahinter, eine unendliche Vielfalt
von Wörtern und Texten bilden. Unsere Alphabetschrift taugt also
durchaus zum Denkmodell.
Hans Blumenberg hat sich nun in einer Reihe von Arbeiten mit
der Bedeutung befaßt, die solche Denkmodelle für unseren Zugriff
2 Hans Diller , Hermes 67 (1932), S. 14-42.
3 JvnstoleXes, Metaphysik A4,985b 4; siehe Diels-Kranz, Fragmente derVorsokrati-
ker61 A6 (Leukipp ). Statt der Buchstaben N und Z werden dort die Buchstaben
Iota (I) und Eta (H) verwendet.
 
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