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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0017
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Sprachliche Texte - Genetische Texte

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auf die Welt haben4. Vor einem guten Jahrzehnt hat er in diesem
Zusammenhang ein Buch mit dem Titel Die Lesbarkeit der Welt
publiziert. Es handelt vom erkenntnisleitenden Potential der
Schrift5. Hier soll nun nicht im einzelnen Blumenberg referiert wer-
den. Es sei nur anhand des 22. (und letzten) Kapitels in diesem
Buch erwähnt, daß Friedrich Miescher in Basel, also derjenige, der
1869 als Substanz in den Kernen von Zellen das von ihm so
genannte „Nuclein“ ausgemacht hatte, 1893, kurz vor seinem Tuber-
kulose-Tod in Davos, als wohl erster eine den Atomisten ähnliche
Vision für die Zellbiologie hatte: man müsse sich das Verhältnis
zwischen den Eigenschaften der Zellen und den aus ihnen entste-
henden Körpern auf der einen und der Substanz in ihren Kernen
auf der anderen Seite so vorstellen wie dasjenige zwischen den 24
bis 30 Buchstaben des Alphabets und den Wörtern, die man damit
ausdrücken könne. Mit Blumenberg soll weiter erwähnt werden,
daß 1943, im Dubliner Exil, der Physiker Erwin Schrödinger in einer
Vorlesungsreihe mit dem Titel „What is Life?“ unabhängig von Mie-
scher erneut die Information in den Kernen von Zellen mit dem
Lochstreifen verglichen hat, auf dem in einem Morsealphabet eine
Botschaft kodiert ist6. Weiter soll erwähnt werden, daß im selben
Jahr 1943 der Bakteriologe Oswald T. Avery die Entdeckung machte,
daß man das Genom bestimmter Mikroben mit dem anderer
Mikroben mischen konnte - mit dem überraschenden Ergebnis, daß
die gewissermaßen bereicherte (heute würde man sagen: geklonte)
Mikrobe nun bestimmte Eigenschaften der anderen besaß. Diese
ein Jahr später veröffentlichte7 Entdeckung - die heute in techni-
schem Maßstab genutzt wird - blieb damals fast unbeachtet. Sie
elektrisierte allerdings einen besonderen Leser, Erwin Chargaff. In
dem Vortrag, den er 100 Jahre nach der Entdeckung Mieschers 1969
in Basel gehalten hat, schreibt er rückblickend, er habe damals
sogleich die Vision einer „Grammatik der Biologie“ gehabt. Char-
gaff entdeckte 1950 die Komplementarität der Nukleotid-Paare.
4 Man denke etwa an die enorme Bedeutung des Uhrwerks als eines Modells für
Systeme: Es fördert unilineare Vorstellungen von Ursache-Wirkungs-Prozes-
sen, z.B. mit Gott als „Erstem Beweger“ oder „großem Uhrmacher“. (Als einer
der ersten scheint es im 14. Jh. Nicole Oresme verwendet zu haben.) Ein Modell
wie das des Netzes fördert dagegen, auf Systeme angewandt, die Vorstellung
der parallelen Verarbeitung von Prozessen.
5 Vgl. Blumenberg 1981.
6 Vgl. Schrödinger 31989: Ulf. - Die Originalausgabe erschien 1944 in Cam-
bridge.
7 Im Journal of Experimental Medicine.
 
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