Monotheismus
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aber ist in der Religionsgeschichte ein Unikum. Wo sonst wäre uns
eine neue Religion in einem vergleichbaren Anfangsstadium erhal-
ten geblieben? Überall sonst müssen wir diese Anfänge aus den
späteren Berichten und Lehrgebäuden rekonstruieren. Hier dage-
gen gibt es kein Später, keine Tradition, die ja immer auch Verfäl-
schung ist, keine Rezeption, keine Redaktion, kein Aus- und
Umbau, keine Interpretation und Adaption. Hier spricht ein Revo-
lutionär und Religionsstifter zu uns in der Morgenfrische der ersten
umstürzenden Worte.
Der wichtigste Text, der sog. Große Hymnus66, ist dreigeteilt. Der
erste Teil gibt eine Schilderung des Sonnenlaufs. Aus den polythei-
stischen Konstellationen, die das traditionelle „Tageszeitenlied“ in
mythischen Bildern entfaltet, ist hier das Gegenüber von Gott und
Welt geworden. Da ist keine Mutter mehr, die den Gott des Mor-
gens gebiert, keine Ammen, die ihn aufziehen, kein Feind, den es zu
überwinden gilt, kein Totenreich, in das der Gott des Nachts hinab-
steigt. Gegenüber dem einen Gott gibt es nur die eine Welt, Objekt
und Gefäß seiner lebensspendenden Energien. Die Kraft der reli-
giösen Vision und die poetische Größe des Textes äußern sich in
dem liebevollen Detailreichtum, mit dem diese Belebung ausge-
malt wird: die Menschen erwachen, waschen sich, kleiden sich an
und gehen an die Arbeit, die Tiere springen auf, die Vögel erheben
sich in die Luft, die Fische hüpfen im Wasser und die Schiffe fahren
stromauf und stromab. Der theologische Sinn dieser Schilderung
liegt darin, daß die bloße Lebensregung als solche schon ein Lob-
preis Gottes ist, den alle Kreatur am Morgen anstimmt und in den
der Mensch nur einstimmt. Der Lobpreis der Kreatur äußert sich
nicht in Worten, sondern in der kreatürlichen Hinwendung zum
Sonnenlicht. Auch der Gott spricht nicht, sondern leuchtet. Das reli-
giöse Geheimnis, der Heils-Sinn des kosmischen Geschehens liegt
66 Die erste Edition dieses Textes wird U. Bouriant verdankt: Mission Archeo-
logique Fran$aise au Cairel, Kairo 1884,2-5 und in U. Bouriant, G. Legrain, G.
Jequier, Monuments du culte d’Atonou (1903) Tf. xvi und S. 30; die maßgebliche
Edition stammt von N. de Garis Davies, The Rock Tombs of EI-AmarnaVI,Lon-
don 1908, Tf. xxvii, xli, S. 29-31. Zu den ersten Übersetzern und Kommentato-
ren gehört v. a. J.H. Breasted, De Hymnis in Solern sub rege Amenophide IVcon-
ceptis Diss. Berlin 1884. Neuere deutsche Übersetzungen: Verf., Ägyptische
Hymnen und Gebete (ÄHG), Zürich 1975, Nr. 92; Ders., in: O. Kaiser (Hrsg.),
Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT), II, Gütersloh 1991, 848-853;
E. Hornung, Gesänge vom Nil, Zürich 1990, 137ff.
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aber ist in der Religionsgeschichte ein Unikum. Wo sonst wäre uns
eine neue Religion in einem vergleichbaren Anfangsstadium erhal-
ten geblieben? Überall sonst müssen wir diese Anfänge aus den
späteren Berichten und Lehrgebäuden rekonstruieren. Hier dage-
gen gibt es kein Später, keine Tradition, die ja immer auch Verfäl-
schung ist, keine Rezeption, keine Redaktion, kein Aus- und
Umbau, keine Interpretation und Adaption. Hier spricht ein Revo-
lutionär und Religionsstifter zu uns in der Morgenfrische der ersten
umstürzenden Worte.
Der wichtigste Text, der sog. Große Hymnus66, ist dreigeteilt. Der
erste Teil gibt eine Schilderung des Sonnenlaufs. Aus den polythei-
stischen Konstellationen, die das traditionelle „Tageszeitenlied“ in
mythischen Bildern entfaltet, ist hier das Gegenüber von Gott und
Welt geworden. Da ist keine Mutter mehr, die den Gott des Mor-
gens gebiert, keine Ammen, die ihn aufziehen, kein Feind, den es zu
überwinden gilt, kein Totenreich, in das der Gott des Nachts hinab-
steigt. Gegenüber dem einen Gott gibt es nur die eine Welt, Objekt
und Gefäß seiner lebensspendenden Energien. Die Kraft der reli-
giösen Vision und die poetische Größe des Textes äußern sich in
dem liebevollen Detailreichtum, mit dem diese Belebung ausge-
malt wird: die Menschen erwachen, waschen sich, kleiden sich an
und gehen an die Arbeit, die Tiere springen auf, die Vögel erheben
sich in die Luft, die Fische hüpfen im Wasser und die Schiffe fahren
stromauf und stromab. Der theologische Sinn dieser Schilderung
liegt darin, daß die bloße Lebensregung als solche schon ein Lob-
preis Gottes ist, den alle Kreatur am Morgen anstimmt und in den
der Mensch nur einstimmt. Der Lobpreis der Kreatur äußert sich
nicht in Worten, sondern in der kreatürlichen Hinwendung zum
Sonnenlicht. Auch der Gott spricht nicht, sondern leuchtet. Das reli-
giöse Geheimnis, der Heils-Sinn des kosmischen Geschehens liegt
66 Die erste Edition dieses Textes wird U. Bouriant verdankt: Mission Archeo-
logique Fran$aise au Cairel, Kairo 1884,2-5 und in U. Bouriant, G. Legrain, G.
Jequier, Monuments du culte d’Atonou (1903) Tf. xvi und S. 30; die maßgebliche
Edition stammt von N. de Garis Davies, The Rock Tombs of EI-AmarnaVI,Lon-
don 1908, Tf. xxvii, xli, S. 29-31. Zu den ersten Übersetzern und Kommentato-
ren gehört v. a. J.H. Breasted, De Hymnis in Solern sub rege Amenophide IVcon-
ceptis Diss. Berlin 1884. Neuere deutsche Übersetzungen: Verf., Ägyptische
Hymnen und Gebete (ÄHG), Zürich 1975, Nr. 92; Ders., in: O. Kaiser (Hrsg.),
Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT), II, Gütersloh 1991, 848-853;
E. Hornung, Gesänge vom Nil, Zürich 1990, 137ff.