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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0008
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Wolfgang Schluchter

und weltoffenes Wesen“.4 Seine Sonderstellung in der Natur, die
ihn nicht feststelle und in diesem Sinne frei mache, belaste ihn
dafür mit einer schweren Hypothek. Denn er könne seine Bedürf-
nisse nicht über ein naturgegebenes Repertoire von Verhaltenswei-
sen erfüllen. Seine relative Natwentbundenheit mache ihn chro-
nisch bedürftig und setze ihn unter einen enormen Unterschei-
dungs- und Entscheidungsdruck. Da ihm natürliche Innenhalte
weitgehend fehlten, müßten kulturelle Stützen an deren Stelle tre-
ten. Diese seien dem Menschen nicht in erster Linie innerlich, son-
dern äußerlich. Auf die Frage, wie es denn dem Menschen bei sei-
ner natürlichen Ausstattung gelinge, sein Dasein einigermaßen zu
stabilisieren, im Kampf gegen die Vergänglichkeit wenigstens Teil-
siege zu erringen, heißt Gehlens entschiedene „negative Antwort:
der Weg über das Bewußtsein, durch Lehre, Bildung oder Propa-
ganda genügt nie.“5 Verlangt sei vielmehr der Weg über und durch
Institutionen. Denn sie allein garantieren Außenhalt. Der Mensch
sei von Natur zu einer Kultur gezwungen, die sich in Institutionen
objektiviere. Auch dies scheint zu seinem Nutzen und zu seinem
Nachteil zugleich. Denn was er aus NeAxvcentbundenheit gewinnt,
die Chance zu „hoher Freiheit“, die Fähigkeit zu komplexer Kultur-
leistung, muß er mit InstitutionengeZzMHi/ew/zeü bezahlen. Nur Insti-
tutionen schaffen Dauer, Sicherheit und Hintergrundserfüllung,
nur sie entlasten den Menschen von Unterscheidungs- und Ent-
scheidungsdruck. Doch sie haben auch die Tendenz, sich zu ver-
selbständigen, eigenstabil zu werden und sich zu entsubjektivieren,
den Menschen in ihre Regie zu nehmen. Für Gehlen ist klar, daß
alle geordnete Freiheit aus der Entfremdung in und durch Institu-
tionen geboren ist.
Nietzsche versteht seine Betrachtungen als unzeitgemäß inso-
fern, als er dem modernen historischen und moralistischen Zeitalter
zu demonstrieren sucht, was sich mit einer angeblichen Übersät-
tigung durch belehrende Historie letztlich verbinde: die Schwä-
chung der Persönlichkeit, die, an das Vergangene gekettet, nicht
mehr zur Selbsttranszendenz, die auch Gut und Böse hinter sich
läßt, fähig sei. Gehlens Betrachtungen sind unzeitgemäß insofern,
als er dem modernen subjektivistischen Zeitalter vorrechnet, was ein
4 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und
Aussagen, Bonn 1956, S. 47.
5 Ebd.
 
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