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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0022
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20

Wolfgang Schluchter

Dürkheim sieht also drei Maßnahmen, um aus dem Verhältnis
von individueller Freiheit und sozialer Bindung in der Gegenwart
keinen destruktiven Antagonismus, sonderne eine fruchtbare und
schöpferische Spannung zu machen: Die Durchsetzung der Men-
schen- und Staatsbürgerrechte und -pflichten, den arbeitsteilig
angelegten Institutionenpluralismus mit der Anerkennung des
Eigenrechts verschiedener gesellschaftlicher Sphären und die
staatsbürgerliche Erziehung, die den moralischen Individualismus
mittels kritischer Belehrung in die Köpfe und Herzen der jungen
Menschen senkt. Aber so überzeugend dies alles ist, Dürkheim
sucht am Ende doch wieder nach dem eigentlichen Träger und
Garanten ‘des Ganzen’. Er findet ihn im modernen Staat. Den will
er zwar als Republik, als demokratischen Rechtsstaat, verstanden
wissen. Aber er ist ihm doch zugleich wieder Träger und Garant
von Bewußtsein mit Wissen und Gewissen im Großformat. Gewiß,
Dürkheim perhorresziert jede „mystische Lösung“, die er ausdrück-
lich mit dem Namen Hegel verbindet.30 Aber er mag auch nicht mit
Kants nüchterner, eher instrumentaler Auffassung des modernen
Staates zufrieden sein. Der moderne Staat muß eine Zivilreligion
und einen dazugehörigen Kultus entwickeln, um die Bürger vor
den Gefahren eines exzessiven Individualismus, also vor sich
selbst, zu schützen. Am Ende soll der Staat doch wieder den großen
‘Vermittler’ und ‘Versöhner’, ja den ‘Führer’ spielen.31 Wie schon
bei Gehlen, werden die anthropologischen Annahmen in einen
starken Institutionalismus übersetzt.

V
Daß Dürkheim auch noch den modernen, säkularen Staat nicht
in erster Linie instrumental, sondern als Medium begreift, das das
gefährdete Individuum zum selbstbestimmten Leben aufruft und
führt, hängt mit seiner Soziologisierung des Kantschen Autono-
miebegriffs zusammen. Ihr folgt Max Weber nicht. Obgleich ein
Kind der historischen Schule, die ihn in Distanz zu Kant brachte, ist
er mit diesem darin einig, daß dem Menschen ursprüngliche Ver-
30 Ebd., S. 54.
31 Dazu insbes. ebd., Kap. IV und V.
 
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