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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0009
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Individuelle Freiheit und soziale Bindung

7

angeblich ungezügeltes Streben nach individueller Freiheit
bedeute: die Entgöttlichung der Institutionen, die Zerstörung ihres
absoluten Selbstwerts im Dasein, die Vernichtung ihrer Transzen-
denz im Diesseits und damit die Gefährdung ihrer Selbstzweckau-
torität und ihrer Eigenstabilität. Wo aber die Institutionen nicht
mehr den Menschen, sondern die Menschen die Institutionen in
ihren Dienst nähmen, sei ein neuer Primitivismus fast unausweich-
lich, eine Ermäßigung der Ansprüche an sich selbst, deren Kehr-
seite die Suche nach möglichst krasser Erregung sei.6 Obgleich
Nietzsche in erster Linie den Verfall der Persönlichkeit, Gehlen
aber den der Institutionen beklagt, haben sie dafür ähnliche Verur-
sacher im Auge: Christentum, Aufklärung und Französische Revo-
lution. Beide Denker akzeptieren Irreversibilitäten, aber sie neh-
men ihr Maß nicht aus der Moderne, sondern von woanders: der
eine aus der griechischen, der andere aus der archaischen Kultur.
Nietzsche und Gehlen aber sind für unser Thema deshalb lehr-
reich, weil sie der von ihnen diagnostizierten Malaise der Moderne
nicht nur mit gegenaufklärerischen Parolen, sondern auch mit Ver-
einseitigung begegnen: der eine mit einem extremen Personalis-
mus und Elitismus, für den institutionelle Bindung letztlich immer
Verkleinerung des Menschen bedeutet, der andere mit einem
extremen Institutionalismus, für den jedenfalls die „höhere“ Frei-
heit letztlich nur aus der bedingungslosen Hingabe an das durch
Institutionen Genormte und Eingewöhnte erwachsen kann.
II
Bei der Bestimmung des Verhältnisses von individueller Freiheit
und sozialer Bindung für den als historisches Kulturwesen aufgefaß-
ten Menschen haben wir eine Tendenz zur Vereinseitigung fest-
gestellt. Sie ist aber nicht nur dem gegenaufklärerischen Denken
eigen. Vielmehr ist sie Teil der Aufklärungsbewegung selbst, der
sich die moderne Soziologie, die den Menschen gleichfalls als
historisches Kulturwesen auffaßt, letztlich verdankt. Zwar vertritt
etwa Kant, der mit seinem Werk einen bleibenden Bezugspunkt für
unser Thema und für die moderne Soziologie setzte, besonders in

6

Vgl. besonders Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsy-
chologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 33 ff.
 
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