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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0023
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Individuelle Freiheit und soziale Bindung

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nünftigkeit und die Fähigkeit zur sinngebenden Stellungnahme
eignet, und dies schließt die ursprüngliche Fähigkeit zur Selbst-
bestimmung mit ein. Es bedarf keiner empirischen und historisch-
vergleichenden Moral- und Rechtssoziologie, um diese Eigenschaf-
ten des Menschen zu begründen. Sie bilden vielmehr geradezu
deren transzendentale Voraussetzung.32 Gewiß ist es wichtig, die
Entwicklungsgeschichte der modernen Freiheit empirisch und in
historisch-vergleichender Perspektive zu verfolgen. Aber dies ver-
langt keine Soziologisierung Kants, sondern allenfalls eine Sozio-
logie, die Kant am Leitfaden des historischen Gedankens modifi-
ziert.
Erst bei Max Weber findet deshalb die Kantische Freiheitslehre
in meinen Augen eine soziologische Entsprechung. Der Staat ist
weder die Wirklichkeit der sittlichen Idee noch das Medium, durch
das sich das gefährdete, weil egoistisch motivierte Individuum zum
moralischen und damit der sozialen Bindung fähigen Individuali-
sten läutern kann. Der Staat ist vielmehr jener Herrschaftsverband
als Betriebsverband, der das Monopol des legitimen physischen
Zwangs für ein Gebiet erfolgreich in Anspruch nimmt und damit
Mitglieder wie Nichtmitglieder seiner Verwaltungs- und Regulie-
rungsordnung unterordnet. Dieser Staat ist als Anstaltsstaat Ver-
fassungsstaat, der aus Mitgliedern Staatsbürger macht und sie mit
subjektiven Rechten ausstattet, die, teilweise als Ausgrenzungs-
rechte, teilweise als Teilhaberechte, ihnen eine Sphäre individuel-
ler Freiheit gewähren. Er hat sich weitere Schranken aufzuerlegen,
so die konstitutionelle Gewaltenteilung und die Bindung allen
staatlichen Handelns an Gesetz und Recht. Der moderne Staat übt
nach Weber deshalb nicht persönliche Herrschaft gleich welcher
Art aus, sondern unpersönliche Satzungsherrschaft. Dies macht
seine universalhistorische Sonderstellung aus.33 Aber diese löst ihn
nicht aus spannungsreichen Beziehungen sowohl zu den
32 Dazu etwa Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Auf!.,
hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1968, S. 180f.
33 Vgl. hierzu neben Webers Herrschafts- und Rechtssoziologie den Systematisie-
rungsversuch in Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen
Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübin-
gen 1979, Kap. 5 und zum Problem der Menschenrechte aus Weberscher Sicht
die grundlegende Arbeit von Winfried Brügger, Menschenrechtsethos und
Verantwortungspolitik. Max Webers Beitrag zur Analyse und Begründung der
Menschenrechte, Freiburg-München 1980.
 
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