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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0021
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Individuelle Freiheit und soziale Bindung

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zu denken.28 Dazu muß sich die Grundrelation von Individuum
und Gruppe verändern. Dies ist erst dann wahrscheinlich, wenn das
soziale Leben komplexer wird und deshalb neue Differenzierungs-
und Koordinationsprinzipien benötigt. Denn dann kann es beim
Zwang zur Ähnlichkeit nicht bleiben. Er wäre geradezu kontra-
produktiv.
Moderne Gesellschaften beruhen vor allem auf funktionaler
Differenzierung und horizontaler Koordinierung. Dies schlägt sich
in ihrem arbeitsteiligen Institutionenpluralismus nieder. Dessen
Korrelat ist ein Individuum, das fähig ist, mehreren, einander
unähnlichen Gruppen anzugehören, und das trotz wechselnder
Rollenerwartungen seine Ich-Identität behaupten kann. Ein in die-
sem Sinne zur Selbstbestimmung gezwungenes Individuum steht
freilich ständig vor der Gefahr, dem Partikularismus und dem
Druck der einzelnen Gruppe zur Ähnlichkeit zu erliegen und damit
seine individuelle Freiheit zu verlieren. Dürkheim spricht von der
Tendenz jeder Gruppe zum Despotismus29, man könnte auch
sagen, von der Tendenz, die Mitglieder möglichst ähnlich zu
machen und die Nichtmitglieder möglichst unähnlich erscheinen
zu lassen, also einen auf Antagonismus angelegten Dualismus von
Binnen- und Außenmoral zu praktizieren und dadurch das Grup-
penleben zu archaisieren. Diese Gefahr wächst in dem Maße, wie
der arbeitsteilige Institutionenpluralismus selbst zusammenbricht.
Um diese Gefahr, die gerade modernen Gesellschaften droht, ban-
nen zu helfen, muß die im moralischen Individualismus gegrün-
dete Freiheit des Einzelnen vor partikularistischem Gruppendruck
geschützt werden. Darin sieht Dürkheim, und ich mit ihm, die
Bedeutung der Menschen- und Staatsbürgerrechte und -pflichten
für moderne Gesellschaften, die, als Rechte und Pflichten gegen
sich selbst und gegen andere, im Vergleich zu den übrigen Grup-
penrechten und -pflichten universalistisch sind.
28 Vgl. dazu auch die interessanten kulturanthropologischen Studien von Marcel
Mauss, dem Neffen Dürkheims, zum Personbegriff. Marcel Mauss, Soziologie
und Anthropologie, 2 Bände, München 1975, Siebenter Teil (Band II, S. 223 ff.).
Ferner, mit Bezug auf Mauss, die Studien in dem Band The category of the per-
son. Anthropology, philosophy, history, eds. Michael Carrithers, Steven Col-
lins, Steven Lukes, Cambridge: Cambridge University Press 1985. Zum Ver-
hältnis von Personbegriff und Subjektbegriff auch Hegel, Band 7, § 34, § 35 und
§ 105. Die Person mußte erst zum Subjekt werden, die bloße Individualisierung
in die Individuierung übergehen.
29 Vgl. etwa Professional Ethics and Civic Morals, S. 61.
 
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