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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0017
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Individuelle Freiheit und soziale Bindung

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Ordnungs- und Verbandstheorie, die zumindest Kantischen Unter-
scheidungen Rechnung trägt. Obgleich beide methodisch ganz ver-
schiedene Wege gehen und auch in verschiedenen wissenschaftli-
chen, politischen und privaten Milieus wurzeln, diskutieren sie das
Verhältnis von individueller Freiheit und sozialer Bindung über
weite Strecken aus einer kantianisierenden Perspektive. Sie folgen
bis zu einem gewissen Grade Kants dualistischer Auffassung vom
Menschen als einem freien, aber zugleich sinnlichen und deshalb
mit dem Hang zum Bösen ausgestatteten Wesen, ferner seiner Auf-
fassung, daß er sich deshalb unter beschränkende innere und
äußere Gesetze stellen muß. Sie folgen auch, wenngleich mit deut-
lich unterschiedlicher Färbung, in Grenzen Kants Republikanis-
mus sowie einem ihm wahlverwandten Differenzierungsmodell,
das für das Verhältnis der eigenrechtlichen und eigengesetzlichen
Sphären zueinander allenfalls ein Zusammen-Bestehen-Können,
also letztlich den immer prekären Spannungsausgleich, nicht aber
die organische Vermittlung zu einer Totalität anvisiert. Freilich
trennen sich spätestens hier die Wege beider. Auf Dürkheim übte
die allerdings eher biologisch verstandene Vorstellung vom organi-
schen Charakter der Gesellschaft immer eine faszinierende Wir-
kung aus.
Der Titel Physik der Sitten und des Rechts, unter den Dürkheim
zunächst in Bordeaux, dann an der Sorbonne eine seiner wieder-
kehrenden zentralen Vorlesungen über Soziologie stellte, markiert
schon rein äußerlich sein Verhältnis zu Kant: Reformulierung der
Metaphysik der Sitten und des Rechts aus dem Geist einer nach-
metaphysischen Soziologie.19 Wolle man die richtungweisenden
Einsichten aus Kants praktischer Philosophie retten, so kann man
Dürkheims Position zusammenfassen, etwa Kants These von der
Autonomie des menschlichen Willens, vom imperativen Charakter
des Moralgesetzes, von der Achtung als einem idealen Gefühl, das
die Triebfeder abgibt, um dieses Gesetz zu befolgen, von der
Selbstüberwindung und Selbstbegrenzung, die die gute Tat mit sich
führt, so müsse man sie aus den sie kompromittierenden meta-
physischen Annahmen lösen.20 Die wichtigste dieser kompromit-
19 Der Originaltitel lautet: Lefons de sociologie. Physique des moeurs et du droit.
Hier wird nach der englischen Ausgabe zitiert. Sie erschien unter dem mißver-
ständlichen Titel: Professional Ethics and Civic Morals, London 1957.
20 Vgl. Emile Dürkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der
Sorbonne 1902/1903, Neuwied und Darmstadt 1973, S. 156.
 
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