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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0025
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Individuelle Freiheit und soziale Bindung

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serreichs und zur entstehenden Weimarer Verfassung lassen sich
auch als Beiträge zur Verwirklichung dieses Ziels verstehen.34 35
Nun würde man Webers Bestimmung des Verhältnisses von
individueller Freiheit und sozialer Bindung freilich allzu optimi-
stisch zeichnen, wollte man es bei dem Hinweis auf seine „Anthro-
pologie“, die Kant verpflichtet ist, und auf seinen nüchternen, fast
instrumentalen Institutionalismus belassen. Hatte er am Ende sei-
ner berühmten Studien über die kulturgeschichtlichen Zusam-
menhänge von asketischem Protestantismus und moderner inner-
weltlicher Berufsaskese nicht von jenem stahlharten Gehäuse
gesprochen, in das die moderne kapitalistische Verkehrswirtschaft
den Menschen einschließe? Gilt das, was er dort von der Wirtschaft
sagt, nicht auch für den modernen Anstaltsstaat? Formen diese
nicht gerade wegen ihres entgöttlichten, entsakralisierten, eben
instrumentalen Charakters ein Gehäuse für die neue Hörigkeit, in
das jene letzten Menschen einziehen, von denen Weber, Nietz-
sches Zarathustra paraphrasierend, sagt, sie hätten das Glück
erfunden, ein Glück, das darin bestehe, alle Utopien, allen Drang
nach Grenzüberschreitung hinter sich zu lassen und sich nur noch
um die äußeren Güter zu sorgen, als Fachmenschen ohne Geist
und als Genußmenschen ohne Herz?3:> Schafft dies nicht ein
Milieu, das opportunistische Wertebefolgung prämiert, weil es
dazu ermuntert, die Prioritäten nach der Vordringlichkeit des Befri-
steten zu ordnen, ein Milieu, das keinerlei Anreize mehr dafür bie-
tet, gegen den Strom zu schwimmen? Woher kommen die Gegen-
halte, um der „mechanisierten Versteinerung“ zu begegnen, zu der
nach Weber die modernen Institutionen tendieren?36 Bleibt da
nicht doch letztlich deren Resakralisierung im Stile Dürkheims
oder Hegels als einziger Ausweg, oder gar Entdifferenzierung, wie
sie dem jungen Marx vorgeschwebt hat?

34 Dazu Wolfgang Schluchter, Aspekte bürokratischer Herrschaft. Studien zur
Interpretation der fortschreitenden Industriegesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt
1985, S. 65ff.
35 Dazu Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1,
Tübingen 1920, S. 202-204.
36 Ebd., S. 204. Der Begriff‘neue Hörigkeit’ wird von Weber in anderem Zusam-
menhang verwendet und dem der ‘alten Hörigkeit’ implizit gegenübergestellt.
Vgl. dazu „Max Weber und das Projekt der Moderne. Eine Diskussion mit Die-
ter Henrich, Claus Offe und Wolfgang Schluchter“, in: Max Weber. Ein Sym-
posion, hrsg. von Christina Gneuss und Jürgen Kocka, München 1988, S.
155ff, bes. S. 167ff.
 
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