6
Manfred Fuhrmann
Köpfen spiegelten, es geht um die Vorstellungen, um die Urteile
und Wünsche, die einstige Europäer mit dem Namen ihres Lebens-
und Kulturraums verknüpft haben. Jedwede programmatische
Äußerung über Europa hat allerdings einen bestimmten Sitz im
Leben, sie setzt eine bestimmte Wirklichkeit voraus, die sie
bewahrt oder - in den weitaus meisten Fällen - korrigiert wissen
möchte, so daß sich jede Beschäftigung mit der Geschichte des
Europagedankens auch auf die Sache Europa, d. h. auf die jewei-
ligen politischen, religiösen oder kulturellen Voraussetzungen ver-
wiesen sieht. Diese Voraussetzungen sind jedoch, wenn und
soweit sie in die Darstellung des Europagedankens einbezogen
werden, nicht Selbstzweck; sie haben lediglich eine dienende
Funktion; sie sollen die Mittel und Ziele eines jeden auf die Ver-
besserung der europäischen Zustände bedachten Entwurfs erläu-
tern helfen.1
Eine zweite Unterscheidung, die Aufmerksamkeit verlangt,
betrifft den Europagedanken selbst, sie ist gleichsam dessen Inter-
num. Die Europäer haben von den Anfängen ihrer Geschichte an
ideale Vorstellungen von einem möglichst gedeihlichen Zusam-
menleben entworfen, wobei sie sich teils zu bestimmten Werten, wie
Freiheit, religiöse Toleranz, Frieden usw., bekannten, teils Modelle
mit überstaatlichen Institutionen, wie Schiedsgericht, Bundesver-
sammlung u.a., konstruierten, um so das politische Handeln aller
Beteiligten zu begrenzen und zu regeln. Hierbei knüpften sie oft
und zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenartiger Sinngebung
an den Namen ihres Lebensraumes an, und die Kategorie Europa
diente ihnen als Summe und Inbegriff alles dessen, was sie gut-
heißen oder fordern zu sollen glaubten. Nicht selten aber verzich-
teten sie auf die ausdrückliche Verwendung des Europa-Namens,
d.h. zahlreiche Entwürfe, die in ihrer Substanz einen Beitrag zur
Europa-Problematik zu leisten suchen, kommen ohne den Europa-
Namen aus und rekurrieren statt seiner auf einen anderen Leit-
begriff, etwa auf den der Christenheit. Wer sich mit der Geschichte
des Europagedankens befaßt, kann kaum umhin, auch die Modelle
in seine Betrachtung einzubeziehen, die sich nur durch ihre Struk-
1 Nach diesem Prinzip ist insbesondere das Werk von R. H. Foerster, Europa -
Geschichte einer politischen Idee, München 1967, angelegt: der Verfasser pflegt
mit klaren Strichen die nicht selten verwickelten Gegebenheiten zu skizzieren,
die ein jedes Europa-Leitbild und Europa-Projekt bedingt und beeinflußt
haben.
Manfred Fuhrmann
Köpfen spiegelten, es geht um die Vorstellungen, um die Urteile
und Wünsche, die einstige Europäer mit dem Namen ihres Lebens-
und Kulturraums verknüpft haben. Jedwede programmatische
Äußerung über Europa hat allerdings einen bestimmten Sitz im
Leben, sie setzt eine bestimmte Wirklichkeit voraus, die sie
bewahrt oder - in den weitaus meisten Fällen - korrigiert wissen
möchte, so daß sich jede Beschäftigung mit der Geschichte des
Europagedankens auch auf die Sache Europa, d. h. auf die jewei-
ligen politischen, religiösen oder kulturellen Voraussetzungen ver-
wiesen sieht. Diese Voraussetzungen sind jedoch, wenn und
soweit sie in die Darstellung des Europagedankens einbezogen
werden, nicht Selbstzweck; sie haben lediglich eine dienende
Funktion; sie sollen die Mittel und Ziele eines jeden auf die Ver-
besserung der europäischen Zustände bedachten Entwurfs erläu-
tern helfen.1
Eine zweite Unterscheidung, die Aufmerksamkeit verlangt,
betrifft den Europagedanken selbst, sie ist gleichsam dessen Inter-
num. Die Europäer haben von den Anfängen ihrer Geschichte an
ideale Vorstellungen von einem möglichst gedeihlichen Zusam-
menleben entworfen, wobei sie sich teils zu bestimmten Werten, wie
Freiheit, religiöse Toleranz, Frieden usw., bekannten, teils Modelle
mit überstaatlichen Institutionen, wie Schiedsgericht, Bundesver-
sammlung u.a., konstruierten, um so das politische Handeln aller
Beteiligten zu begrenzen und zu regeln. Hierbei knüpften sie oft
und zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenartiger Sinngebung
an den Namen ihres Lebensraumes an, und die Kategorie Europa
diente ihnen als Summe und Inbegriff alles dessen, was sie gut-
heißen oder fordern zu sollen glaubten. Nicht selten aber verzich-
teten sie auf die ausdrückliche Verwendung des Europa-Namens,
d.h. zahlreiche Entwürfe, die in ihrer Substanz einen Beitrag zur
Europa-Problematik zu leisten suchen, kommen ohne den Europa-
Namen aus und rekurrieren statt seiner auf einen anderen Leit-
begriff, etwa auf den der Christenheit. Wer sich mit der Geschichte
des Europagedankens befaßt, kann kaum umhin, auch die Modelle
in seine Betrachtung einzubeziehen, die sich nur durch ihre Struk-
1 Nach diesem Prinzip ist insbesondere das Werk von R. H. Foerster, Europa -
Geschichte einer politischen Idee, München 1967, angelegt: der Verfasser pflegt
mit klaren Strichen die nicht selten verwickelten Gegebenheiten zu skizzieren,
die ein jedes Europa-Leitbild und Europa-Projekt bedingt und beeinflußt
haben.