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Manfred Fuhrmann
Dieses Urteil läßt sich schwer oder gar nicht mit der Auffassung all
derer vereinbaren, die den Europagedanken bis zur Antike oder bis
zum hohen Mittelalter zurückverfolgen zu müssen glauben. Wenn
man nun den wie üblich ungenannten Verfasser des Brockhaus-
Artikels nicht schlechtweg der Unwissenheit zeihen möchte, dann
bleibt nur die Erklärung, daß er von etwas anderem spricht als jene
weit ausholenden Verfasser von historisch orientierten Unter-
suchungen des Europagedankens, daß er mit dem Terminus ‘Europa-
gedanke’ eine andere Vorstellung verbindet als sie.
In der Tat scheint es sich so zu verhalten, daß die antiken und
frühmittelalterlichen Zeugnisse für die über das Geographische
hinausgehende Verwendung des Europa-Namens ein anderes
Gepräge zeigen als all das, was die Europäer seit dem hohen oder
späten Mittelalter über die Ordnung ihres Zusammenlebens zu
Papier gebracht haben. Diese Vermutung impliziert eine dritte und
letzte Unterscheidung: die Manifestationen des Europagedankens
sind teils überwiegend deklaratorischen Charakters, d. h. sie zielen
auf die Bestätigung gegebener Verhältnisse; teils aber wenden sie
sich beratend oder fordernd an ihr Publikum, d. h. sie haben zual-
lererst den Zweck, die gegebenen Verhältnisse zu verändern. Auf
einer rigorosen Trennung dieser beiden Tendenzen wird man
schwerlich bestehen wollen; andererseits kann man sich des Ein-
drucks nicht erwehren, daß die antiken und frühmittelalterlichen
Zeugnisse im wesentlichen der erstgenannten Kategorie ange-
hören, daß sie also, wenn auch in idealisierender Überhöhung,
Wirkliches spiegeln (man könnte geradezu von einem ‘panegyri-
schen Europagedanken’ sprechen), während erst alle die Modelle,
die seit dem späten Mittelalter ersonnen worden sind, Programme
enthalten, die auf die je gegebenen Zustände gestaltend einwirken
möchten.
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Eine kurze Musterung des antiken und frühmittelalterlichen
Europagedankens mag diese These erläutern und bekräftigen.6
Über die mythische Figur Europa, über jene phönizische Königs-
6 Die folgenden Darlegungen greifen bisweilen Zusammenhänge auf, die schon
früher skizziert wurden, und suchen sie zum Teil genauer zu erfassen; vgl. M.
Fuhrmann, Europa - Zur Geschichte einer kulturellen und politischen Idee, Kon-
stanz 1981.
Manfred Fuhrmann
Dieses Urteil läßt sich schwer oder gar nicht mit der Auffassung all
derer vereinbaren, die den Europagedanken bis zur Antike oder bis
zum hohen Mittelalter zurückverfolgen zu müssen glauben. Wenn
man nun den wie üblich ungenannten Verfasser des Brockhaus-
Artikels nicht schlechtweg der Unwissenheit zeihen möchte, dann
bleibt nur die Erklärung, daß er von etwas anderem spricht als jene
weit ausholenden Verfasser von historisch orientierten Unter-
suchungen des Europagedankens, daß er mit dem Terminus ‘Europa-
gedanke’ eine andere Vorstellung verbindet als sie.
In der Tat scheint es sich so zu verhalten, daß die antiken und
frühmittelalterlichen Zeugnisse für die über das Geographische
hinausgehende Verwendung des Europa-Namens ein anderes
Gepräge zeigen als all das, was die Europäer seit dem hohen oder
späten Mittelalter über die Ordnung ihres Zusammenlebens zu
Papier gebracht haben. Diese Vermutung impliziert eine dritte und
letzte Unterscheidung: die Manifestationen des Europagedankens
sind teils überwiegend deklaratorischen Charakters, d. h. sie zielen
auf die Bestätigung gegebener Verhältnisse; teils aber wenden sie
sich beratend oder fordernd an ihr Publikum, d. h. sie haben zual-
lererst den Zweck, die gegebenen Verhältnisse zu verändern. Auf
einer rigorosen Trennung dieser beiden Tendenzen wird man
schwerlich bestehen wollen; andererseits kann man sich des Ein-
drucks nicht erwehren, daß die antiken und frühmittelalterlichen
Zeugnisse im wesentlichen der erstgenannten Kategorie ange-
hören, daß sie also, wenn auch in idealisierender Überhöhung,
Wirkliches spiegeln (man könnte geradezu von einem ‘panegyri-
schen Europagedanken’ sprechen), während erst alle die Modelle,
die seit dem späten Mittelalter ersonnen worden sind, Programme
enthalten, die auf die je gegebenen Zustände gestaltend einwirken
möchten.
2
Eine kurze Musterung des antiken und frühmittelalterlichen
Europagedankens mag diese These erläutern und bekräftigen.6
Über die mythische Figur Europa, über jene phönizische Königs-
6 Die folgenden Darlegungen greifen bisweilen Zusammenhänge auf, die schon
früher skizziert wurden, und suchen sie zum Teil genauer zu erfassen; vgl. M.
Fuhrmann, Europa - Zur Geschichte einer kulturellen und politischen Idee, Kon-
stanz 1981.