10
Manfred Fuhrmann
bereits die bis zum Beginn der Neuzeit maßgebliche Dreiteilung
Europa - Asien - Afrika; er weiß vom Don im südlichen Rußland
als neuer Festlandsgrenze zwischen Europa und Asien, und die
Erdbeschreibung, die sich bei den Vorgängern auf die Küstenregio-
nen des Mittelmeeres beschränkt hatte, dringt bei ihm weit in die
Tiefe der Kontinente vor.9
Die folgenden Jahrhunderte erbrachten Kenntniserweiterun-
gen zumal im Nordwesten und Norden Europas, und ein letztes
Mal wurde das geographische Wissen der Antike durch die römi-
schen Eroberungen in Britannien, in den Alpen und im Donau-
raum gefördert. Wie die Geographen der römischen Kaiserzeit
bezeugen, waren schließlich nur noch das nördliche Rußland sowie
Teile Skandinaviens und Schottlands unbekannt, und Europa, das
Herodot einst für den größten Erdteil gehalten hatte, galt nunmehr
mit Recht als der kleinste.10
Herodot hat den Europa-Namen nicht nur in geographischer
Bedeutung verwendet,11 sondern auch als Chiffre für eine poli-
tische Gegebenheit, für einen Herrschaftsbereich, so daß man in
ihm durchaus den ältesten Zeugen für einen über das Geogra-
phische hinausgehenden Gebrauch des Wortes - für einen
bestimmten Europagedanken also - erblicken kann. So verlautet
bei ihm, Kyros, der Begründer der persischen Macht, habe in
einem Traum seinen zweiten Nachfolger Dareios gesehen, und
zwar als ein beflügeltes Wesen: der eine Flügel habe Asien
beschattet, der andere Europa.12 Das Symbol ist durchsichtig; es
deutet auf den Feldzug voraus, der mit der Schlacht bei Marathon
endete, d. h. auf den vergeblichen Versuch des Dareios, sich nach
der Niederwerfung des Aufstandes der ionischen Griechen an der
Westküste Kleinasiens auch das europäische Griechenland bot-
mäßig zu machen. An anderer Stelle des herodoteischen Geschichts-
9 4,36-45. Eine Rekonstruktion der ältesten Erdkarte im Lexikon der Alten Welt,
Zürich-Stuttgart 1965, Sp. 1497.
10 So Marcianus von Herakleia (wohl um 400 n. Chr.), in den Geographi Graeci
minores, ed. C. Müller, Bd. 1, Paris 1855, p. 520.
11 So vor allem in den grundsätzlichen Darlegungen über die Beschaffenheit der
ihm bekannten Welt, so aber auch beiläufig, wenn sein Bericht es ihm nahelegt:
„Dareios zog nach Europa hinüber“ (nämlich auf einer Schiffsbrücke, die den
Bosporus überquerte), heißt es zu Beginn des persischen Feldzugs gegen die
Skythen im Donauraum (4,89).
12 1,209. Ähnlich, allerdings von einem ägyptischen König und von den Skythen,
2,103 und 1,103.
Manfred Fuhrmann
bereits die bis zum Beginn der Neuzeit maßgebliche Dreiteilung
Europa - Asien - Afrika; er weiß vom Don im südlichen Rußland
als neuer Festlandsgrenze zwischen Europa und Asien, und die
Erdbeschreibung, die sich bei den Vorgängern auf die Küstenregio-
nen des Mittelmeeres beschränkt hatte, dringt bei ihm weit in die
Tiefe der Kontinente vor.9
Die folgenden Jahrhunderte erbrachten Kenntniserweiterun-
gen zumal im Nordwesten und Norden Europas, und ein letztes
Mal wurde das geographische Wissen der Antike durch die römi-
schen Eroberungen in Britannien, in den Alpen und im Donau-
raum gefördert. Wie die Geographen der römischen Kaiserzeit
bezeugen, waren schließlich nur noch das nördliche Rußland sowie
Teile Skandinaviens und Schottlands unbekannt, und Europa, das
Herodot einst für den größten Erdteil gehalten hatte, galt nunmehr
mit Recht als der kleinste.10
Herodot hat den Europa-Namen nicht nur in geographischer
Bedeutung verwendet,11 sondern auch als Chiffre für eine poli-
tische Gegebenheit, für einen Herrschaftsbereich, so daß man in
ihm durchaus den ältesten Zeugen für einen über das Geogra-
phische hinausgehenden Gebrauch des Wortes - für einen
bestimmten Europagedanken also - erblicken kann. So verlautet
bei ihm, Kyros, der Begründer der persischen Macht, habe in
einem Traum seinen zweiten Nachfolger Dareios gesehen, und
zwar als ein beflügeltes Wesen: der eine Flügel habe Asien
beschattet, der andere Europa.12 Das Symbol ist durchsichtig; es
deutet auf den Feldzug voraus, der mit der Schlacht bei Marathon
endete, d. h. auf den vergeblichen Versuch des Dareios, sich nach
der Niederwerfung des Aufstandes der ionischen Griechen an der
Westküste Kleinasiens auch das europäische Griechenland bot-
mäßig zu machen. An anderer Stelle des herodoteischen Geschichts-
9 4,36-45. Eine Rekonstruktion der ältesten Erdkarte im Lexikon der Alten Welt,
Zürich-Stuttgart 1965, Sp. 1497.
10 So Marcianus von Herakleia (wohl um 400 n. Chr.), in den Geographi Graeci
minores, ed. C. Müller, Bd. 1, Paris 1855, p. 520.
11 So vor allem in den grundsätzlichen Darlegungen über die Beschaffenheit der
ihm bekannten Welt, so aber auch beiläufig, wenn sein Bericht es ihm nahelegt:
„Dareios zog nach Europa hinüber“ (nämlich auf einer Schiffsbrücke, die den
Bosporus überquerte), heißt es zu Beginn des persischen Feldzugs gegen die
Skythen im Donauraum (4,89).
12 1,209. Ähnlich, allerdings von einem ägyptischen König und von den Skythen,
2,103 und 1,103.