Alexander von Roes
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den die Hunnen als besonders schwere Heimsuchung erfahren. So
sah man auch sie als Urheber einer europäischen Katastrophe an:
Ingens bellum et priore maius, schreibt der Chronist Marcellinus
Comes (6. Jahrhundert), per Attilam regem nostris inflictum paene
totam Europam excisis, invasisque civitatibus atque castellis conrasit
- „Ein furchtbarer Krieg, noch schlimmer als der vorige, wurde von
König Attila über uns verhängt; er machte, da die Städte und
Festungen erobert und zerstört wurden, fast ganz Europa dem Erd-
boden gleich.“38 Einen dritten besonders heftigen Einbruch in die
Zivilisation des römischen Reiches bewirkten die Eroberungen der
Langobarden; hierzu Papst Gregor der Große: Ecce cuncta in Euro-
pae partibus barbarorum iuri sunt tradita - „Seht, in den Ländern
Europas ist alles dem Machtwort der Barbaren ausgeliefert.“39
Aus der Leidensgemeinschaft wurde mit dem Erstarken des
karolingischen Reiches eine Kampf- und Siegesgemeinschaft: die-
sen Zustand bezeugt zum ersten Male das nächste Beispiel eines
situationsbedingten, punktuellen Bekenntnisses zu Europa, der
vielzitierte Bericht von dem Waffenerfolg über die Araber, den
man im Jahre 732 zwischen Tours und Poitiers errungen hatte. Die
Araber, vermeldet eine anonyme Fortsetzung der Chronik Isidors,
stießen auf den fränkischen ‘Konsul’ namens Carrulus (d. h. auf
Karl Martell), als sie im Gebiet von Tours mit Sengen und Plün-
dern beschäftigt waren. Sieben Tage tobte die Schlacht; da erblik-
ken im Morgengrauen die Europäer die verlassenen Zelte der
Araber und kehren frohgemut in ihre Vaterländer zurück - Euro-
penses vero ... in suas se leti recipiunt patrias.40 Das Heer Karl
Martells war wohl eilig aus Kontingenten verschiedener Herkunft
zusammengerafft; die improvisierte Kampfgemeinschaft gegen
den außereuropäischen Eindringling erzwang eine zusammenfas-
sende Bezeichnung, und so kam es zum ältesten Beleg für das
Ethnikon Europensis.41
38 Chronicon, in Chronica minora 2 (Anm. 37), p. 82.
39 MGH, Ep. Bd. 1, Gregorii I papae Registrum, ed. P. Ewald - L. M. Hartmann,
Berlin 1891, p. 322.
40 Continuationes Isidorianae, in Chronica minora 2 (Anm. 37), p. 361 f.
41 Spätere Beispiele für ein punktuell aufscheinendes, situationsbedingtes
Europa-Bewußtsein kann man in Äußerungen zur Ungarngefahr erblicken:
Liutprand von Cremona, Antapodosis 1,13 (zu den Ungarnzügen zur Zeit
Arnulfs von Kärnten); Widukind von Korvey, Res gestae Saxonicae 1,19 u. ö.
(zum Siege Ottos I. auf dem Lechfelde, im Jahre 955).
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den die Hunnen als besonders schwere Heimsuchung erfahren. So
sah man auch sie als Urheber einer europäischen Katastrophe an:
Ingens bellum et priore maius, schreibt der Chronist Marcellinus
Comes (6. Jahrhundert), per Attilam regem nostris inflictum paene
totam Europam excisis, invasisque civitatibus atque castellis conrasit
- „Ein furchtbarer Krieg, noch schlimmer als der vorige, wurde von
König Attila über uns verhängt; er machte, da die Städte und
Festungen erobert und zerstört wurden, fast ganz Europa dem Erd-
boden gleich.“38 Einen dritten besonders heftigen Einbruch in die
Zivilisation des römischen Reiches bewirkten die Eroberungen der
Langobarden; hierzu Papst Gregor der Große: Ecce cuncta in Euro-
pae partibus barbarorum iuri sunt tradita - „Seht, in den Ländern
Europas ist alles dem Machtwort der Barbaren ausgeliefert.“39
Aus der Leidensgemeinschaft wurde mit dem Erstarken des
karolingischen Reiches eine Kampf- und Siegesgemeinschaft: die-
sen Zustand bezeugt zum ersten Male das nächste Beispiel eines
situationsbedingten, punktuellen Bekenntnisses zu Europa, der
vielzitierte Bericht von dem Waffenerfolg über die Araber, den
man im Jahre 732 zwischen Tours und Poitiers errungen hatte. Die
Araber, vermeldet eine anonyme Fortsetzung der Chronik Isidors,
stießen auf den fränkischen ‘Konsul’ namens Carrulus (d. h. auf
Karl Martell), als sie im Gebiet von Tours mit Sengen und Plün-
dern beschäftigt waren. Sieben Tage tobte die Schlacht; da erblik-
ken im Morgengrauen die Europäer die verlassenen Zelte der
Araber und kehren frohgemut in ihre Vaterländer zurück - Euro-
penses vero ... in suas se leti recipiunt patrias.40 Das Heer Karl
Martells war wohl eilig aus Kontingenten verschiedener Herkunft
zusammengerafft; die improvisierte Kampfgemeinschaft gegen
den außereuropäischen Eindringling erzwang eine zusammenfas-
sende Bezeichnung, und so kam es zum ältesten Beleg für das
Ethnikon Europensis.41
38 Chronicon, in Chronica minora 2 (Anm. 37), p. 82.
39 MGH, Ep. Bd. 1, Gregorii I papae Registrum, ed. P. Ewald - L. M. Hartmann,
Berlin 1891, p. 322.
40 Continuationes Isidorianae, in Chronica minora 2 (Anm. 37), p. 361 f.
41 Spätere Beispiele für ein punktuell aufscheinendes, situationsbedingtes
Europa-Bewußtsein kann man in Äußerungen zur Ungarngefahr erblicken:
Liutprand von Cremona, Antapodosis 1,13 (zu den Ungarnzügen zur Zeit
Arnulfs von Kärnten); Widukind von Korvey, Res gestae Saxonicae 1,19 u. ö.
(zum Siege Ottos I. auf dem Lechfelde, im Jahre 955).