Alexander von Roes
25
rend die zweite Spielart, die Beschränkung auf die Vergangenheit,
in Geschichtswerken ihre Heimstatt hat.54
Mit dem Ausgang des 9. Jahrhunderts erlischt der karolingische
Europagedanke, reißt jedenfalls der unmittelbare, durch Zeit-
genossenschaft bedingte Zusammenhang der Zeugnisse ab. Wäh-
rend der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts flackerte das Motiv
gelegentlich als ein die Gegenwart verpflichtendes Erbe wieder
auf: im ostfränkischen, im deutschen Reich, als die Herrschaft der
Ottonen ihren Höhepunkt erreicht hatte.55 Im übrigen weiß man
nur noch vom vergangenen Europa Karls des Großen und vom
gegenwärtigen Europa als dem Wirkungsraum heiliger Männer.56
4
Der Überblick über den Europagedanken der Antike und des
frühen Mittelalters ist hiermit beendet. Es sollte gezeigt werden,
daß der Europa-Name in allen Varianten der Verwendung auf
Bestehendes verweist: er spiegelt in Klage und Preis das Auf und
Ab der Geschichte, er bekundet ein Zusammengehörigkeitsgefühl
der Bewohner, er bezeichnet die Öffentlichkeit in ihrer größten
Ausdehnung, als Widerhall des Ruhmes und Reichweite der
Macht. Doch niemals dient er als Inbegriff programmatischer For-
derungen, nie hat er die Aufgabe, auf ein Ziel zu deuten, auf ein
Ideal, das es mit Hilfe bestimmter Einrichtungen oder Maßnahmen
zu verwirklichen oder jedenfalls zu bewahren gilt. Diese Merkmale
kommen erst den vielfältigen Entwürfen zu, die seit dem späten
Mittelalter ans Licht getreten sind; erst sie enthalten ein planeri-
sches Element, durch das sie sich nicht mehr allein auf die Gegen-
wart, sondern vor allem auf die Zukunft beziehen.
Um eben dieser Eigenschaften willen scheinen die politischen
Traktate Alexanders von Roes einige Aufmerksamkeit zu verdie-
54 Nithard, Historiae 1,1 und 4,2; Notker, Gesta Karoli 1,17 und 1,30.
55 Insbesondere bei Widukind von Korvey, Res gestae Saxonicae 1,19; 1,34; 1,41; 2
prol.; 3,46; vgl. aber Anm. 41.
56 So schreibt z. B. Adam von Bremen, Karl habe omnia regna Europae unterwor-
fen (Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum 1,14 in MGH, Script, rer. Ger-
man. in usum scholarum ... editi Bd. 2, ed. B. Schmeidler, Hannover - Leipzig
19173, p. 19); andererseits berichtet Otloh von St. Emmeram, der Geruch der
Heiligkeit Ulrichs habe ganz Europa erfüllt (Vita Wolfkangi 11, in MGH, Script.
Bd. 4, Annales, chronica etc., ed. G. H. Pertz et alii, Hannover 1841, p. 530).
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rend die zweite Spielart, die Beschränkung auf die Vergangenheit,
in Geschichtswerken ihre Heimstatt hat.54
Mit dem Ausgang des 9. Jahrhunderts erlischt der karolingische
Europagedanke, reißt jedenfalls der unmittelbare, durch Zeit-
genossenschaft bedingte Zusammenhang der Zeugnisse ab. Wäh-
rend der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts flackerte das Motiv
gelegentlich als ein die Gegenwart verpflichtendes Erbe wieder
auf: im ostfränkischen, im deutschen Reich, als die Herrschaft der
Ottonen ihren Höhepunkt erreicht hatte.55 Im übrigen weiß man
nur noch vom vergangenen Europa Karls des Großen und vom
gegenwärtigen Europa als dem Wirkungsraum heiliger Männer.56
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Der Überblick über den Europagedanken der Antike und des
frühen Mittelalters ist hiermit beendet. Es sollte gezeigt werden,
daß der Europa-Name in allen Varianten der Verwendung auf
Bestehendes verweist: er spiegelt in Klage und Preis das Auf und
Ab der Geschichte, er bekundet ein Zusammengehörigkeitsgefühl
der Bewohner, er bezeichnet die Öffentlichkeit in ihrer größten
Ausdehnung, als Widerhall des Ruhmes und Reichweite der
Macht. Doch niemals dient er als Inbegriff programmatischer For-
derungen, nie hat er die Aufgabe, auf ein Ziel zu deuten, auf ein
Ideal, das es mit Hilfe bestimmter Einrichtungen oder Maßnahmen
zu verwirklichen oder jedenfalls zu bewahren gilt. Diese Merkmale
kommen erst den vielfältigen Entwürfen zu, die seit dem späten
Mittelalter ans Licht getreten sind; erst sie enthalten ein planeri-
sches Element, durch das sie sich nicht mehr allein auf die Gegen-
wart, sondern vor allem auf die Zukunft beziehen.
Um eben dieser Eigenschaften willen scheinen die politischen
Traktate Alexanders von Roes einige Aufmerksamkeit zu verdie-
54 Nithard, Historiae 1,1 und 4,2; Notker, Gesta Karoli 1,17 und 1,30.
55 Insbesondere bei Widukind von Korvey, Res gestae Saxonicae 1,19; 1,34; 1,41; 2
prol.; 3,46; vgl. aber Anm. 41.
56 So schreibt z. B. Adam von Bremen, Karl habe omnia regna Europae unterwor-
fen (Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum 1,14 in MGH, Script, rer. Ger-
man. in usum scholarum ... editi Bd. 2, ed. B. Schmeidler, Hannover - Leipzig
19173, p. 19); andererseits berichtet Otloh von St. Emmeram, der Geruch der
Heiligkeit Ulrichs habe ganz Europa erfüllt (Vita Wolfkangi 11, in MGH, Script.
Bd. 4, Annales, chronica etc., ed. G. H. Pertz et alii, Hannover 1841, p. 530).