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Fuhrmann, Manfred; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 4. Abhandlung): Alexander von Roes - ein Wegbereiter des Europagedankens?: vorgetragen am 16. Februar 1991 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48173#0030
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Manfred Fuhrmann

den ersten seiner beiden Traktate gewidmet. Die Titel der Schrif-
ten lauten: Memoriale de prerogativa imperii Romani, Denkschrift
über die Vorrangstellung des römischen Reiches, und Noticia seculi,
Übersicht über den Lauf der Welt. Die beiden Abhandlungen stim-
men in den wichtigsten Punkten überein: in der Sorge um das Reich,
dessen althergebrachte Vorrangstellung sie für wohlbegründet, ja
notwendig und gottgewollt erklären, und in dem Versuch, durch
einen Vorschlag, durch eine Art Geschäftsverteilungsplan unter
den Kernvölkern Europas für eine neue, aus der gegenwärtigen
Krise hinausführende Variante dieser Vorrangstellung zu werben.
Auch im 13. Jahrhundert und noch lange Zeit danach ver-
mochte man sich die gesamte Menschheitsgeschichte nicht anders
vorzustellen denn als gradlinigen Prozeß, der von der Schöpfung
bis zum Jüngsten Gericht fortschreite; man war insbesondere
überzeugt, daß nach einer Folge von vier Weltreichen, als deren
letztes das römische Imperium - d. h. zunächst: das römische
Imperium der Antike - galt, der Antichrist, eine universale Macht
des Bösen, auftreten und hiermit die Wiederkunft des Herrn und
das Ende der Zeitlichkeit einleiten werde. Die Lehre von den vier
Reichen hatte zur Folge, daß man den Untergang Roms, das Ergeb-
nis der Völkerwanderung, nicht zugab oder nicht wahrnahm; man
deutete die Krönung Karls des Großen zum Kaiser als Wiederauf-
frischung, als renovatio des römischen Reiches - eine Vorstellung,
die man später, im Hoch- und Spätmittelalter, durch die Theorie
von der translatio imperii, von der Übertragung der römischen
Herrschaft auf die Franken und Deutschen, ersetzte.63
An eben dieser Stelle hakten die Widersacher ein, gegen die
Alexander sich wendet: warum, so fragte sich mancher, sollte der
Papst das römische Kaisertum auf die Deutschen übertragen
haben, eine so grobe und tolpatschige Nation (populum tam rudem
et ineptumf, das Reich habe entweder bei den Römern, d.h. bei den
Bewohnern Italiens, bleiben oder an die Franzosen gelangen müs-

63 Zu dieser vielerörterten Materie s. z.B. P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Reno-
vatio, 2 Bde., Leipzig 1929; M. Seidlmayer, „Rom und Romgedanke im Mittel-
alter“, Saeeulum 7, 1956, S. 395fF.; E. J. J. Kocken, De theorie van devierwereld-
rijken en van den overdracht der wereldheerschappij tot op Innocentius III., Diss.
Nimwegen 1935; A. D. von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchroni-
stik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957; W. Goetz, Translatio
Imperii - Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen
Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958; A. Klempt, Die
Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, Göttingen 1960.
 
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