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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 1. Abhandlung): Vom gesunden Menschenverstand: vorgetragen am 29. Oktober 1994 — Heidelberg: Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48175#0016
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Albrecht Dihle

pokratischen Traktates von der Heiligen Krankheit, des ersten Ver-
suchs, die bis dahin als Besessenheit verstandene Epilepsie mit
einer physiologischen Theorie zu erklären. Ähnliche Äußerungen
gibt es auch sonst in der älteren medizinischen Literatur17. Die
Herausbildung eines solchen Naturbegriffs setzte voraus, daß die
Regelhaftigkeit der Naturvorgänge statt der unberechenbaren
Übermacht der Götter in den Vordergrund des spekulativen Inter-
esses getreten war und man zugleich, wie es zuerst Heraklit andeu-
tete18, auf die genaue Entsprechung zwischen der Ordnung der
Natur und dem Erkenntnisvermögen des Menschen zu vertrauen
lernte. Gewiß gründete sich dieses Vertrauen in die Vernunft auch
auf die vielen technischen und politischen Errungenschaften, die
den Griechen im 6. und 5. Jh. v.C. gelangen19.
Der neue, „wissenschaftliche“ Naturbegriff war im Hinblick auf
die Natur des Menschen nur am Einzelnen, am Individuum, zu
verifizieren. Unter diesem Gesichtspunkt aber wurden Unter-
schiede wie der zwischen Athenern und Spartanern oder Griechen
und Barbaren mit ihren jeweils verschiedenen Traditionen, Sitten
und Wertvorstellungen gegenstandslos. Das bringt wiederum die
medizinische Literatur, etwa mit dem Verweis auf die Anfälligkeit
aller Menschen für dieselben Krankheiten, deutlich zum Aus-
druck20. Die Unterschiede unter den Menschengruppen, den Völ-
kern oder Stämmen, diesen selbst bewußt an ihren besonderen
Sitten und Wertmaßstäben, führten die frühen Mediziner dann
gleichfalls auf die natürlichen Einflüsse aus Klima und Umwelt
zurück, oder aber auf generationenlang geübte Gepflogenheiten,
die, wie es Demokrit formulierte, „Natur herstellen“21. So hatte ein
griechischer Mediziner des späten 5. Jh. in der südrussischen
Steppe die Sitte der Nomaden beobachtet, Kleinkindern durch
Bandagen den Schädel zu deformieren. Er gelangte zu der Auffas-
sung, daß die lange Zeit geübte Sitte nunmehr zur Vererbung die-
ser Schädelform geführt habe22.
Der neue Naturbegriff gab den Anstoß zur Diskussion eines
Themas, das die Geister in den Zentren der griechischen Kultur für
17 Hippocr. de morb. sacr. 1; de victu 1,4; 11; Progn. 1.
18 Heracl. B 50 D. K.
19 Vgl. K. Thraede, Erfinder (Reall. f. Ant. u. Christ. 5, 1962) 1179ff.
20 Hippocr. Progn. 25.
21 Democr. B 33 D. K.
22 Hippocr. de aer. 14.
 
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