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Albrecht Dihle
abgeneigten Gelehrtenleben zu ziehen vermag. Das war ein sehr
umstrittenes Thema. So referiert ein Brief Senecas81 zunächst die
Meinung, daß man die Erfinder des Pfluges oder Webstuhls als
Wohltäter bezeichnen dürfe, die in der Vorzeit den Aufstieg der
Menschheit eingeleitet hätten. Dieser Ehrentitel, so die Gegen-
position, komme nur den Weisen der Vorzeit zu, die gleichsam als
frühe Philosophen die Menschen Recht und Sitte lehrten, deren
Gedanken also zum traditionellen Allgemeinbesitz, zur Orientie-
rung für den gesunden Menschenverstand, geworden sind. Wer
will behaupten, daß diese Diskussion heute ihr Ende gefunden
habe?
Es gibt eine - gewiß apokryphe - Anekdote, derzufolge ein Pro-
fessor in der Seminarsitzung das auf common sense gegründetes
Argument eines Studenten mit den Worten zurückgewiesen habe:
Elerr Kommilitone, wir betreiben hier ernste Wissenschaft! Auf die
philosophische Tradition der Griechen konnte sich, wie wir gese-
hen haben, der Professor dabei schwerlich berufen, trotz Platons
Abneigung gegenüber der doxa tön pollön. Auf zu vielen Wegen
verschaffte sich der gesunde Menschenverstand selbst in Wissen-
schaft und Philosophie Eingang - und wir sollten ihn auch getrost
dort verweilen lassen. Gerade der sog. Geisteswissenschaftler
kann, indem sie sich auf ihn besinnt und sich nicht allzu unge-
hemmt unfruchtbaren Methodendiskussionen hingibt und darin
seine Wissenschaftlichkeit zu erweisen sucht, zur Humanisierung,
zur Selbstbescheidung und zur gesellschaftlichen Akzeptanz aller
Wissenschaften beitragen.
Die nicht endende, methodische Suche nach Wahrheit und die
Bewältigung täglicher Lebensfragen in Übereinstimmung mit unse-
ren Mitmenschen sind zwei verschiedene Aufgaben, die zuein-
ander im Widerspruch zu stehen scheinen und doch eng aufein-
ander bezogen sind. Beide fordern unseren Intellekt, beide wollen
erfüllt sein, soll unsere Menschlichkeit nicht Schaden nehmen.
Die Griechen haben das zum ersten Mal ins Bewußtsein gehoben,
dabei aber auch gezeigt, daß die Frage nach dem Verhältnis, in dem
beide zueinander stehen, immer wieder von neuem bedacht und
beantwortet werden will.
81
Sen. ep. 90 in der eingehenden Auseinandersetzung mit der Kulturentste-
hungslehre des Poseidonios.
Albrecht Dihle
abgeneigten Gelehrtenleben zu ziehen vermag. Das war ein sehr
umstrittenes Thema. So referiert ein Brief Senecas81 zunächst die
Meinung, daß man die Erfinder des Pfluges oder Webstuhls als
Wohltäter bezeichnen dürfe, die in der Vorzeit den Aufstieg der
Menschheit eingeleitet hätten. Dieser Ehrentitel, so die Gegen-
position, komme nur den Weisen der Vorzeit zu, die gleichsam als
frühe Philosophen die Menschen Recht und Sitte lehrten, deren
Gedanken also zum traditionellen Allgemeinbesitz, zur Orientie-
rung für den gesunden Menschenverstand, geworden sind. Wer
will behaupten, daß diese Diskussion heute ihr Ende gefunden
habe?
Es gibt eine - gewiß apokryphe - Anekdote, derzufolge ein Pro-
fessor in der Seminarsitzung das auf common sense gegründetes
Argument eines Studenten mit den Worten zurückgewiesen habe:
Elerr Kommilitone, wir betreiben hier ernste Wissenschaft! Auf die
philosophische Tradition der Griechen konnte sich, wie wir gese-
hen haben, der Professor dabei schwerlich berufen, trotz Platons
Abneigung gegenüber der doxa tön pollön. Auf zu vielen Wegen
verschaffte sich der gesunde Menschenverstand selbst in Wissen-
schaft und Philosophie Eingang - und wir sollten ihn auch getrost
dort verweilen lassen. Gerade der sog. Geisteswissenschaftler
kann, indem sie sich auf ihn besinnt und sich nicht allzu unge-
hemmt unfruchtbaren Methodendiskussionen hingibt und darin
seine Wissenschaftlichkeit zu erweisen sucht, zur Humanisierung,
zur Selbstbescheidung und zur gesellschaftlichen Akzeptanz aller
Wissenschaften beitragen.
Die nicht endende, methodische Suche nach Wahrheit und die
Bewältigung täglicher Lebensfragen in Übereinstimmung mit unse-
ren Mitmenschen sind zwei verschiedene Aufgaben, die zuein-
ander im Widerspruch zu stehen scheinen und doch eng aufein-
ander bezogen sind. Beide fordern unseren Intellekt, beide wollen
erfüllt sein, soll unsere Menschlichkeit nicht Schaden nehmen.
Die Griechen haben das zum ersten Mal ins Bewußtsein gehoben,
dabei aber auch gezeigt, daß die Frage nach dem Verhältnis, in dem
beide zueinander stehen, immer wieder von neuem bedacht und
beantwortet werden will.
81
Sen. ep. 90 in der eingehenden Auseinandersetzung mit der Kulturentste-
hungslehre des Poseidonios.