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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0027
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Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage

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eine Denkfigur, ein „Sprachbild“27 oder Relationsbegriff, sondern ein
SeinsbegriffÄ der eine reale politische Potenz zum Gegenstand hat.
Aber die Verfassunggebung ist die - spezifische - politische Ent-
scheidung für eine Grundnorm: Verfassunggebung darf nicht in dezi-
sionistischer Verkürzung auf einen Situationsbefehl reduziert werden,
der sich als Äußerung faktischer Macht nur instrumental des Rechts be-
dient. Vor allem: Verfassunggebung ist die Entscheidung für die Dau-
ergeltung der politischen Form des Volkes - also für die Konstanz und
Kontinuität dieser Formgebung. Deshalb wird dafür ein breiter Kon-
sens gefordert und durch die erhöhte Bestandsgarantie und erschwerte
Abänderbarkeit mit qualifizierten Mehrheiten in einem streng formali-
sierten Verfahren gegen die Augenblicksschwankungen der öffentli-
chen Meinung gesichert.
b) Die Legitimierung der Verfassung als zweite Äußerung der Verfas-
sunggebenden Gewalt wird durch die normative Kraft dieses andauern-
den Normwillens des Volkes bewirkt. Die Gründung der Verfassung auf
den tragenden Willen des Volkes muß dauernd fortgeführt29, erneuert,
neu errungen werden, sofern und solange die Verfassung Bestand haben
soll. Dieses perennierende Normgeschehen wird verdunkelt durch eine
unangemessene Terminologie: Der Begriff der Verfassunggebung sugge-
riert, daß diese sich in einem singulären Akt erschöpft - als ob ein ange-
reister Nomothet, ein stilisierter Solon, gerufen wird, sein Werk vollbringt
und dann verschwindet. Jedoch: Das Volk ist permanenter Verfassungs-
träger, nicht nur sporadischer Verfassunggeber. Die Verfassunggebung ist
nur der Auftakt zur andauernden Verfassungsträgerschaft.
In dieser Rolle existiert und handelt das Volk als Träger der Verfas-
sunggebenden Gewalt, solange die Verfassung gilt. Nach dem Erlaß ei-
ner neuen Verfassung ist die Verfassunggebende Gewalt nicht etwa „er-
loschen“, wie es vielfach heißt. Auch „ruht“3J sie keineswegs, sondern
wirkt weiter als realer - politischer und zugleich normativer - Grund der
Verfassungsgeltung, solange das Volk im kontinuierlichen Wechsel sei-
”6 Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, Stuttgart 1978,
S. 588 ff., 656 ff., 674 ff., 706 ff., 726 ff., 751 ff., 777 ff., 828 ff., 892 ff., 1066 ff., 1178 ff.; Ernst-
Wolfgang Böckenförde, Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der
Weimarer Republik, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt 1991, S. 318 ff., 326 ff., 335
ff.
27 Paul Kirchhof fN 23), § 19 Rn. 15,17.
"Erich Kaufmann, Juristische Relationsbegriffe und Dingbegriffe, in: ders., Rechtsidee
und Recht, Ges. Schriften, Bd. 3, Göttingen 1960, S. 266 (267, 270).
29Böckenförde (N 20), S. 99 ff.
"Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 2. a., Opladen 1981, S. 260 ff.
 
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