Metadaten

Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0028
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
26

Martin Heckel

ner Generationen die Verfassung als zuträglich und tragbar weiterträgt.
Sie gilt ja nicht „neukantianisch“ oder nach einer sonstigen „reinen
Rechtslehre“ als Sollen vom realen Sein geschieden11, sondern kraft des
realen Normwillens der Nation, die damit die Gerechtigkeitsprinzipien
situations- und zeitbedingt ausformt und in Raum und Zeit Wirklichkeit
werden lassen will.
Wird die Gründung auf den dauernden Normwillen des Volkes er-
kannt, so löst sich die Paradoxie, die die Verfassunggebende Gewalt für
den Juristen so schwer verständlich werden läßt: Sie ist aus Normen
nicht ableitbar, aber enthält eine Normentscheidung, die Normen
schafft. Sie ist die Frucht eines historischen Augenblicks, die doch Kon-
stanz über den Augenblick hinaus beansprucht. Sie will die Kontinuität
der Form verbürgen, obgleich ihr Anfang und ihr Ende durch die Dis-
kontinuität der Verfassungsverhältnisse charakterisiert sind. Sie ver-
langt Unverbrüchlichkeit, obwohl sie aus dem Bruch des bisher gelten-
den Verfassungsrechts entstand und auch die geltende Verfassungsord-
nung im Umbruch hinwegfegen kann. Sie äußert sich in der-gewalttätig
eruptiven - Revolution des Volkes, das aber dann kraft seiner Verfas-
sunggebenden Gewalt die verfaßten Organe des Staates auf die strikte
Wahrung und Durchsetzung der Verfassung gegen jeden Revolutions-
versuch, Staatsstreich und Verfassungsbruch verpflichtet - solange das
Volk selbst die Verfassung trägt.
Die Theorie sollte sich weder durch eine apolitisch-normativistische
noch durch eine normfremd-dezisionistische Blickverengung täuschen
lassen. Nur wenn sie die komplexe Einheit der politischen Entschei-
dungen und normativen Dauerfundamente im Phänomen der Verfas-
sunggebung und Verfassunggebenden Gewalt erkennt, wird sich die
Rechtswissenschaft nicht zu realitätsentrückten, den politischen Grund
und den normativen Sinn der Verfassung zugleich verfehlenden Kon-
struktionen versteigen: gipfelnd etwa in dem absurden Apergu, die Ver-
fassunggebende Gewalt des Volkes verpflichte mit dem Erlaß der Ver-
fassung die verfaßten Gewalten, das Volk künftig an der Ausübung sei-
ner Verfassunggebenden Gewalt mit allen Mitteln der Verfassung zu
hindern32.
c) Die Beseitigung der Verfassung bedeutet in diesem Sinn das Ende
ihrer Trägerschaft: Das Volk wirft die Verfassung ab, wenn es sie als un-
31 Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, in: ders., Rechtsidee
und Recht (N 28), S. 177 ff.
So Murswiek (N 20), S. 256; Gerd Roellecke, Verfassunggebende Gewalt als Ideologie,
in: JZ 1992, S. 929 (930)
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften