30
Martin Heckel
werden kann. - Wird (2.) über das Grundgesetz als Ganzes abgestimmt,
so wird ein negativer Ausgang die Bevölkerung in ein verfassungs-
rechtliches Vakuum stürzen, das sie in ihrer Mehrheit gar nicht will; die
geringe Abstimmungsbeteiligung aber wird auch bei positiver Ent-
scheidung die Legitimation der Verfassung schmälern. - Wird (3.) nur
über die beitrittsbedingten Grundgesetzänderungen abgestimmt, so
macht ein negativer Entscheid den Vollzug der Einigung unmöglich,
obwohl sie staats- und völkerrechtlich unwiderruflich geworden ist; ein
positives Ergebnis aber wird bei schwacher Beteiligung als verquertes
Votum gegen die Wiedervereinigung und ihre Folgekosten ausgedeutet
werden.
Statt die Grundlagen der Verfassung zu zerreden, sollte die ganze
Kraft für den politischen Aufbau im Osten eingesetzt werden, zumal sich
gegen ein reines Plebiszit zur Klärung von Verfassungsfragen gewichti-
ge Bedenken erheben:
4. Die Formen der Verfassunggebenden Gewalt stellen sich komple-
xer dar, als gemeinhin bewußt ist.
a) Auch in seiner Unorganisiertheit -in seiner diffusen Konsistenz als
„Gesellschaft“ - kann sich das Volk als Träger der Verfassunggebenden
Gewalt erweisen: Zum einen, wenn es die Grundrechte der Meinungs-,
Presse- und Versammlungsfreiheit zur Legitimierung der Verfassung ge-
braucht und diese durch die zustimmende Erneuerung des Norm willens
und der Normüberzeugung vital erhält'. Die Grundrechte entfalten
hierdurch eine politische Partizipationsfunktion, die ihre andere, libe-
ral-rechtsstaatliche Abwehr- und Ausgrenzungsfunktion in der Tren-
nung von Staat und Gesellschaft transzendiert und demokratisch kom-
pensiert.
Zum anderen aber kann sich das Volk als unorganisierte Größe bei
der Verfassungsbeseitigung äußern, wie der Zerfall des DDR-Regimes
in der Zersetzung des Verfassungskonsenses und der Staatsautorität
lehrt. Die dezisionistische Theorie der Verfassunggebung als „politi-
scher Entscheidung“ ist insoweit offenbar zu revidieren, da sich das Volk
bei der Verfassungsbeseitigung gerade nicht mehr in den alten Formen
organisieren läßt.
Beides spricht heute gegen eine Volksabstimmung: Die geglückte de-
mokratische Legitimierung des Grundgesetzes durch die öffentliche
Meinung wird durch eine Volksabstimmung keineswegs gestärkt. Eher
37
Böckenförde (N 20), S. 104; Henke (N 13), S. 277; Mahrenholz (N 7), S. 17 f.
Martin Heckel
werden kann. - Wird (2.) über das Grundgesetz als Ganzes abgestimmt,
so wird ein negativer Ausgang die Bevölkerung in ein verfassungs-
rechtliches Vakuum stürzen, das sie in ihrer Mehrheit gar nicht will; die
geringe Abstimmungsbeteiligung aber wird auch bei positiver Ent-
scheidung die Legitimation der Verfassung schmälern. - Wird (3.) nur
über die beitrittsbedingten Grundgesetzänderungen abgestimmt, so
macht ein negativer Entscheid den Vollzug der Einigung unmöglich,
obwohl sie staats- und völkerrechtlich unwiderruflich geworden ist; ein
positives Ergebnis aber wird bei schwacher Beteiligung als verquertes
Votum gegen die Wiedervereinigung und ihre Folgekosten ausgedeutet
werden.
Statt die Grundlagen der Verfassung zu zerreden, sollte die ganze
Kraft für den politischen Aufbau im Osten eingesetzt werden, zumal sich
gegen ein reines Plebiszit zur Klärung von Verfassungsfragen gewichti-
ge Bedenken erheben:
4. Die Formen der Verfassunggebenden Gewalt stellen sich komple-
xer dar, als gemeinhin bewußt ist.
a) Auch in seiner Unorganisiertheit -in seiner diffusen Konsistenz als
„Gesellschaft“ - kann sich das Volk als Träger der Verfassunggebenden
Gewalt erweisen: Zum einen, wenn es die Grundrechte der Meinungs-,
Presse- und Versammlungsfreiheit zur Legitimierung der Verfassung ge-
braucht und diese durch die zustimmende Erneuerung des Norm willens
und der Normüberzeugung vital erhält'. Die Grundrechte entfalten
hierdurch eine politische Partizipationsfunktion, die ihre andere, libe-
ral-rechtsstaatliche Abwehr- und Ausgrenzungsfunktion in der Tren-
nung von Staat und Gesellschaft transzendiert und demokratisch kom-
pensiert.
Zum anderen aber kann sich das Volk als unorganisierte Größe bei
der Verfassungsbeseitigung äußern, wie der Zerfall des DDR-Regimes
in der Zersetzung des Verfassungskonsenses und der Staatsautorität
lehrt. Die dezisionistische Theorie der Verfassunggebung als „politi-
scher Entscheidung“ ist insoweit offenbar zu revidieren, da sich das Volk
bei der Verfassungsbeseitigung gerade nicht mehr in den alten Formen
organisieren läßt.
Beides spricht heute gegen eine Volksabstimmung: Die geglückte de-
mokratische Legitimierung des Grundgesetzes durch die öffentliche
Meinung wird durch eine Volksabstimmung keineswegs gestärkt. Eher
37
Böckenförde (N 20), S. 104; Henke (N 13), S. 277; Mahrenholz (N 7), S. 17 f.