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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0033
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Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage

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droht der Verfassungskonsens durch ein Verfassungsplebiszit neuerlich
zerredet zu werden.
b) Die Art der Organisation des Volkes ist ausschlaggebend für den
Ablauf und das Ergebnis der Verfassungsgebung: Entscheidend ist, wer
die Initiative ergreifen und das Verfahren regeln kann . So hat die
Vorentscheidung Friedrich Eberts für die Abhalterung von Wahlen zur
Nationalversammlung die entscheidenden Weichen für die Weimarer
Verfassunggebung gestellt und den Allgemeinen Deutschen Räte-
kongreß ausmanövriert.
c) Ein Volksentscheid als einziges, ausschließliches Verfassung-
gebungsverfahren stößt auf schwerwiegende Bedenken w: Das Volk ist
hierbei auf die von anderen Mächten zurechtgestutzte Frage ohne Ver-
änderungsmöglichkeiten festgelegt, soll aber die Verantwortung für
komplizierte Entscheidungen und Langzeit-Wirkungen der Wirt-
schafts- und Sozialordnung, Sicherheits- und Finanzverfassung zur ei-
genen Entlastung der politischen Klasse aufgebürdet erhalten. Das Ver-
fahren zwingt zur radikalen Reduzierung komplexer Relationen, zur
Simplifizierung differenzierter Probleme, zu Rationalitätseinbußen und
Planungsdefiziten, zu Mängeln an Sachkompetenz und Sachlichkeit,
zum Vorwalten der Dezision auf Kosten der Deliberation und zur hit-
zigen Emotionalisierung der Massen, wie sie in einer revolutionär an-
geheizten Atmosphäre durch das Diktat des Tages eine verantwortliche
Dauerlösung doppelt erschwert. Beim Plebiszit liegt die Entscheidung
deshalb weniger bei der Wählerschaft als bei der provisorischen oder
normalen Regierung und Parlamentsmehrheit, die das Volk auf ihr vor-
formuliertes Programm einengt.
d) Nur repräsentative Formen der Verfassunggebung - exklusiv oder
kombiniert mit plebiszitären Momenten - bringen die volle Repräsen-
tation des Volkes in seinen verschiedenen Gruppierungen zum Zug. Nur
sie erlauben die breite rationale Diskussion schwieriger Fragen, die
Berücksichtigung komplexer Zusammenhänge, das wechselseitige Aus-
tarieren der Vorteile und Nachteile, der Augenblicksentscheidungen
und ihrer Fernwirkungen. Nur im repräsentativen Verfassunggebungs-
38 Erich Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, in: üm’., Rechtsidee und Recht (N
28), S. 275 ff.; Klaus von Beyme, Die Verfassunggebende Gewalt des Volkes, Tübingen
1968, S. 9 ff., 63 ff.; Böckenförde (N 20), S. 100 ff.; zum Revolutionssgeschehen 1918/19
Huber (N 26), S. 685 ff., 708 ff., 713, 726 ff., bes. 777 ff., 791 ff., 829 ff., 843, 845 ff.
Zum folgenden vgl. statt anderer Kaufmann (N 38), S. 278 ff.; von Beyme (N 38), S. 32
ff., 37 ff.; zur Aufgliederung in verschiedene plebiszitäre und repräsentative Verfah-
rensabschnitte vgl. z.B. Bartlsperger (N 4), S. 1290 ff.
 
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