Metadaten

Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0037
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage

35

gierung und/oder des Parlaments und/oder einer Volksinitiative durch
eine Nationalversammlung und/oder eine Volksabstimmung gesche-
hen? Ein Plebiszit ist gegenwärtig nach Art. 29 GG nur für die Neuglie-
derung der Bundesländer vorgesehen. Die Initiative und das Verfahren
der Verfassungsablösung muß also durch Verfassungsänderung erst
noch geregelt werden.
d) Dennoch enthält Art. 146 GG n.F. eine doppelte klare Sachent-
scheidung4 , also keinen leeren, auslegungsunfähigen Formelkompro-
miß: Das Grundgesetz gilt als vollgültige Verfassungsnorm für das
gesamte deutsche Volk einschließlich seiner „Ewigkeitsgarantie“ der
Verfassungsfundamente in Art. 79 Abs. 3 GG. Und alle einigungs-
bedingten Regelungsaufgaben werden ausdrücklich auf den Weg der
Verfassungsänderung mit den hierfür erforderlichen Zwei-Drittel-
Mehrheiten verwiesen ? Der neugefaßte Art. 146 GG kann deshalb von
der Interpretation nicht als widersprüchlich, auslegungsunfähig und
obsolet ignoriert werden, auch wenn man ihn für entbehrlich, vielleicht
sogar gefährlich halten mag. Die These von der Überflüssigkeit des Art.
146 GG nach Vollendung der Einheit scheiterte eben am Widerspruch
der SPD und wurde von der CDU schließlich selbst aufgegeben. Sie
kann nicht „nachtarockend“ als geltendes Verfassungsrecht ausgegeben
werden.
2. Die zweite Ansicht - deklaratorischer Hinweis auf die originäre,
extrakonstitutionelle Verfassunggebung - greift zu kurz:
a) Ein deklaratorischer Hinweis auf die originäre Vernichtungskraft der
Verfassunggebenden Gewalt - die in der Tat durch die Verfassung nicht
normiert, sondern nur deklaratorisch zitiert werden könnte - kann nicht
der Sinn des Schlußartikels sein. Ist es doch nicht Sinn und Ziel der Ver-
fassung, die allgemeine Staatslehre zu repetieren und unkalkulierbaren
Kräften den Weg zur Revolution zu weisen, sondern die nötigen histori-
schen Normentscheidungen für die Integration und Existenzbewältigung
der Staatsnation zu treffen. Der Hinweis auf eine bevorstehende Verfas-
sungsbeseitigung aber diskreditiert die Verfassungsnormen, erschüttert
44 Schäuble (N 11), S. 303, 305; Stern, Wiederherstellung (N 8), S. 48 ff., 93; Isensee (N 4),
§ 166 Rn. 51, 61 ff.
43 Dies folgt aus Art. 79 Abs. 1 und 2 GG und ist im Art. 5 EVertr überdies im beider-
seitigen Konsens der großen Parteikonstellationen klargestellt worden; es hat mithin
auch für die Regelung der Initiative und des Verfahrens einer Verfassungsablösung
nach Art. 146 GG n.F. zu gelten.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften