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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0038
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Martin Heckel

ihren Unantastbarkeitsanspruch in Art. 79 Abs. 3 GG und belastet die
normgemäßen Integrationsprozesse. Zeichnet sich der Abgang politischer
Potenzen ab, so eilen Erwartung und Gehorsam ihren Erben zu.
b) Vor allem: Schon Art. 146 GG a.F. besaß keineswegs deklaratori-
schen, sondern konstitutiven Charakter von höchster Brisanz4'": Als
Überleitungsnorm ermächtigte Art. 146 GG a.F. die Staatsorgane, im
Kairos der politischen Konstellation die nötigen Maßnahmen zur Wie-
dervereinigung zu ergreifen, etwa Wahlen zu einer konstituierenden ge-
samtdeutschen Nationalversammlung durchzuführen, einen Verfas-
sungsentwurf zu erstellen, ihn einer Volksabstimmung zu unterbreiten
u.a.m. Für das vorrangige Verfassungsziel der deutschen Einheit - aber
nur für dieses - erhielten dadurch die Staatsorgane die zweckbedingt un-
faßbar globale Ermächtigung, das Grundgesetz, ja den westdeutschen
Teilstaat selbst zu vernichten, ohne sich dem Revolutionsverdacht und
Vorwurf des Verfassungsbruchs auszusetzen! - Als solche Überlei-
tungsnorm kann Art. 146 GG n.F. jedoch nicht mehr betrachtet werden,
da er nicht mehr die originäre Verfassungsgebung, sondern nur eine be-
sondere Form der Verfassungsrevision in den Grenzen des Verfas-
sungsänderungsverfahrens gemäß Art. 79 Abs. 3 GG betrifft:
3. Die dritte Ansicht - nichtige Ermächtigung zur Verfassungsbeseiti-
gung- läßt sich nicht halten:
a) Diese Variante hat zwar hypothetisch recht: Wäre in Art. 146 GG
n.F. wirklich die Ermächtigung zur Beseitigung der Verfassung enthal-
ten, dann müßte er in der Tat (als „verfassungswidriges Verfassungs-
recht“) für nichtig gehalten werden, weil seine Neuformulierung durch
die Verfassungsänderung des Einigungsvertrages (Art. 4) gegen die
Fundamentalgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen hätte.
b) Aber diese Nichtigkeits-Argumentation geht von unhaltbaren
Voraussetzungen aus: Eine derartige Ermächtigung zur Verfassungsbe-
seitigung haben die Staatsorgane weder erteilen können noch wollen.
Sie konnten dies nicht: Die Neuformulierung wurde 1990 durch die ver-
faßten Gewalten im Verfassungsänderungsverfahren des Art. 79 Abs. 1
und 2 GG eingeführt, das dabei selbst an die unantastbare Fundamen-
46 In diesem Sinn bezeichnet BVerfGE 5, 85 (131) den Art. 146 GG a.F. als „in die Zu-
kunft gerichtete Überleitungsnorm" zur „Vorbereitung eines Aktes des pouvoir con-
stituant des ganzen deutschen Volkes, der ... darüber entscheiden soll, ob die Ordnung
des Grundgesetzes auch für Gesamtdeutschland fortbestehen oder durch eine andere
Verfassungsordnung abgelöst werden soll“; vgl. auch Sachs (N 2), S. 987.
 
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