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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0039
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Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage 37
talgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden war und auch keine ande-
re Instanz ermächtigen konnte, diese Verfassungsbindung künftig ab-
zustreifen. Was rechtlich nicht möglich war, ist rechtlich nicht passiert.
Darin zeigt sich der tiefe Unterschied zwischen Art. 146 GG a.F. und
n.F.47: Art. 146 GG n.F. besitzt trotz der Teilidentität des Wortlauts einen
völlig anderen Rechtscharakter als der alte Schlußartikel 146 GG a.F.,
welcher nicht durch spätere Verfassungsänderungen der verfaßten Ge-
walten, sondern schon bei der Verfassunggebung 1949 vom Verfassung-
geber selbst geschaffen worden war und als exorbitante Ausnahmenorm
um der Wiedervereinigung willen sogar Vorrang vor der Unantastbar-
keitsnorm des Art. 79 Abs. 3 GG besessen hatte, sich jedoch i.J. 1990 mit
Vollendung der deutschen Einheit über den anderen Weg des Beitritts
nach Art. 23 GG a.F. durch Zweckerreichung erledigt hat. Bei der Neu-
fassung des Art. 146 GG i.J. 1990 aber war der Gesetzgeber nicht von der
Bindung an die Fundamentalgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG frei.
c) Er konnte die Verfassung folglich auch nicht durch einen totalen Ab-
lösungsvorbehalt zur Disposition stellen - es sei denn, daß man darin ei-
nen legal verschleierten extrakonstitutionellen Machtergreifungsakt er-
blicken will. Doch hat dies 1990 offensichtlich niemand gewollt. Die Neu-
fassung des Schlußartikels läßt sich nicht im Ernst mit dem
Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 gleichsetzen. Keiner der politi-
schen Kräfte in der Bundesrepublik waren 1990 derartige Absichten zu un-
terstellen. Art. 146 GG n.F. kann vielmehr - wie zum Schluß zu zeigen ist
- durchaus verfassungskonform als eine besondere Form der Verfas-
sungsrevision verstanden werden, die den besonderen politischen Exi-
stenzbedingungen der Bundesrepubklik Rechnung trägt und die keine
traumatischen Erinnerungen an die nationalsozialistische und interna-
tional-sozialistische Zerschlagung der freiheitlichen Verfassungen in der
Vergangenheit wachruft.
4. Die vierte Absicht - Ermächtigung bzw- Verfassungsauftrag zur
Verfassunggebung - verstößt gegen Sinn und System der Verfassung:
a) Diese Interpretationsspielart geht aus den eben genannten Grün-
den fehl48: Eine Ermächtigung oder gar ein Auftrag zur Ablösung des
Grundgesetzes im Wege der Verfassunggebung kann weder aus Text,
Genesis und Sinn des neugefaßten Schlußartikels entnommen werden,
noch könnte dies Rechtswirksamkeit erlangen, weil es gegen die Unan-
47 Isensee (N 1), S. 16 ff., 43 ff., 54 ff.; ders. (N 4), § 166 Rn. 6 ff., 23 ff., insbes. 48 ff.
48 Vgl. die in N 6 genannten Autoren. Zusammenfassend Isensee (N 4), § 166 Rn 54 ff., 60,66 ff.
 
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