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Heckel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1995, 3. Abhandlung): Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage: wo war das Volk? ; vorgetragen am 11. Februar 1995 — Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.48183#0043
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Die deutsche Einheit als Verfassungsfrage

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6. Die sechste Ansicht - eine Parallelform der Verfassungsrechtser-
zeugung - ist abzulehnen, da sie der Verfassung widerspricht und die
Verfassunggebende Gewalt mißachtet:
Eine „Domestizierung“ der Verfassunggebenden Gewalt erscheint
wie aufgezeigt unmöglich: In der revolutionären Situation läßt sich die
Verfassunggebende Gewalt des Volkes in ihrer originären Wucht nicht
von einer früheren Verfassung beschränken, wenn das Volk als Verfas-
sungsträger diese nicht weiter gelten läßtIn der Normalsituation aber
äußert sich die Verfassunggebende Gewalt darin, daß sie die Verfassung
ohne Durchbrechung gewahrt wissen will. Dies gilt gerade auch für die
Normen des Verfassungsänderungsverfahrens! Die Erfindung der hy-
briden Zwitterfigur einer „domestizierten“ Verfassunggebenden Gewalt
aber löst diese Verfassungsbindung auf. Darin liegt in Wahrheit eine
Mißachtung und Verletzung der Verfassunggebenden Gewalt des
Volkes, die die Verfassung konstituiert und ihren Geltungsanspruch le-
gitimiert. Die gegenwärtige torsohafte Ausgestaltung des Art. 146 GG
n.F. schließt es in ihrer Unvollziehbarkeit und Ergänzungsbedürftigkeit
aus, darin die Ermächtigung zur Dispensation bzw. zur Durchbrechung
der Verfassungsänderungsbestimmungen zu sehen. Auch muten die Fol-
gen absurd an: Es ist widersprüchlich und systemsprengend, für einzel-
ne, begrenzte Änderungen der Verfassung das streng formalisierte Ver-
fahren des Art. 79 Abs. 1 und 2 GG mit seinen qualifizierten Mehrhei-
ten im Bundestag und Bundesrat zu fordern, eine „totale“, grundlegende
Veränderung der Verfassung jedoch mit einfacher Mehrheit zu erlauben.
Was sich als „domestizierte“ bzw. „konstitutionalisierte“ Verfassung-
gebung präsentiert, ist ein Versuch, die Normen der Verfassungsgeltung
und Verfassungsänderung zu unterlaufen.
V.
Art. 146 GG n.F. als Normgrundlage für eine
Totalrevision des Grundgesetzes
1. Die Interpretation des Art. 146 GG n.F. als ergänzungsbedürftige
Normgrundlage für eine verfassungsablösende Totalrevision des
Grundgesetzes dürfte seiner Entstehungsgeschichte, systematischen
Stellung und seiner Zweckbestimmung am ehesten gerecht werden. Art.
146 GG ist nun einmal vorhanden und muß eine sinngerechte Ausle-

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Vgl. obenS. 23 ff., 27 ff., 32 ff.).
 
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