Metadaten

Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]; Arend, Sabine [Bearb.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (17. Band, 1. Teilband = Baden-Württemberg, 3): Schwäbisch Hall, Heilbronn, Konstanz, Isny und Gengenbach — Tübingen: Mohr Siebeck, 2007

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.30656#0561
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
421. Ordnung der Lateinschulen 1559

dig lernen. | cxxxb | Und damit die Dialectic alle Jar
ein mal gar außgelesen möcht werden, Soll der Prae-
ceptor alle tag darinnen lesen und allwegen des an-
dern Tags dasselbig vor der Lection wider repe-
tiernjm.
Die ander und dritt stund vor Mittag quintae
Classis:
nVon acht biß neun Uhr soll der Praeceptor in disem
Classe die grösser Grammaticam Philippi, ultimam
aeditionem63, under die Hand nemen und von den
Knaben erfordern, das sie es selbs expliciern und, wa
von nötten, inen hilfflich sein und alle vocabula la-

m Separatdruck 1559: repetiern.
Welcher gestalt die Knaben in die Dialecticam
einzufüren unnd anzubringen seien
Damit aber die Knaben lustig und die Dialecticam zu-
lernen begirig gemacht werden, soll der Praeceptor diser
Classis inen zum eingang anzeigen, daß dise Kunst nit so
schwär sey zu lernen und zubegreiffen, dann der meh-
rertheil derselbigen uns angeborn und inen, den Knaben,
so gemein, wo sie diser Kunst nit einen guten theil wiß-
ten, so kunte ir keiner mit dem andern reden, Dann (das
die Jungen sollichs durch ein Exempel mögen verstehn),
so ein Knab von dem andern begert, er soll ime das Buch
schencken, so er in den henden hab, Antwortet der
Knab: Ich kan dir es nit schencken, dann es ist nit mein.
Da hat der Knab wol und recht nach der Dialectica ant-
wort geben und weißt doch noch der zeit nicht, was Dia-
lectica heißt, dann er hat ein Enthymema gemacht, das
lauttet also: Hic liber non est meus, Ergo hoc libro te
non possum donare. Der Syllogismus lauttet also: Quae
mea non sunt, tibi donare non possum. Hic liber non est
meus, Ergo hunc librum tibi donare non possum. Also
treiben sie die Dialecticam täglich von jugent auff, ehe
sie wissen, was Dialectica heißt. Dergleichen die Baurn
auff dem Marckt und in allen Gesprechen, wa inen nicht
ein gutter theil der Dialectic angeborn were, köndten sie
nicht mit einander handlen.
Gleich wie man aber in der Grammatic anfacht an den
Buchstaben und lernet nachmals darauß Syllaben, auß
den Sylben Wörtlin und auß den Wörtlin gantze Red
machen, Also thut man in der Dialectica auch und lernet
erstlich, wie man ein jedes Wörtlin auff die art der Dia-
lectica nennen soll. Und sonderlich ist zumerken, wie in
der Grammatic acht Seckel seind, die man partes oratio-
nis nennet, darein man alle Wörtlin leget, Also hat die
Dialectica zehen Seckel, die man Praedicamenta nennet,
darein alle Wörtlin (viere außgenommen) gehörn, Dar-
nach fünff Namen, mit wölchen alle Wörtlin in einem
jeden Seckel underscheiden werden, die nennet man

tinis verbis expliciern und fleiß thun, das sie die
Praecepta hurtig außwendig recitiern künden und
behalten. Und wann die Grammatic ordenlich zum
end gebracht, soll er die Prosodiam, so in diser
Grammatic steht, fleissig expliciern und, sovil müg-
lich sein kan, Exemplis declariern, auch versuchen,
ob bey den Knaben zuerhalten, das sie lernten Car-
rninao schreiben.
Zu der andern Stund, von neun biß zehen Uhr,
soll Rhetorica Philippi Melanthonis gelesen werden.
Weil aber Georgius Maior64 per quaestiones die-
selbp nicht allein in ein fein Epitomen verfaßt, son-
der auch schöne Orationes darzu gesetzt, auß wöl-

Praedicabilia, darauß kan nachmals ein gantz ring ver-
stendiger eins einigen Wörtlins Definition und auß zwei-
en Worten ein Proposition und auß den Propositionen
ein Syllogismum oder Enthymema machen, wie dann
gehört, das es uns angeborn sey. Damit man aber an
einer Sehlußred nicht zweiffle, seind in der Dialectic ett-
lich Heußlin gesetzt, die man locos inventionis nennet,
darauß allerley Wöhr unnd Waffen genommen werden,
unser meinung zubeweisen und des Widersachers zuver-
werfen und abzuleinen. Das also in der Dialectic nichts
schwärs, sonder alles gantz leicht ist und uns angeborn,
wann nun ein Knab ein lust darzu gewint, zu dem das
kein Knab ein rechte Epistel schreiben kan, er seie dann
diser Kunst ettwas erfarn. Dise und dergleichen seind
zum eingang der Dialectic den Knaben durch die Prae-
ceptores fürzuhalten, wie ein verstendiger Praeceptor
wol zuthun weißt.
KO Württemberg 1582: Zu der ersten Stund sollen jede
Discipuli ein partem quaestionum Grammatieae latinae
memoriter recitirn, inen alßdann a Praeceptore ein an-
dere fürgegeben und per annotationes Lossii expliciert
werden [Lukas Loß, Annotationes in Grammaticam
D. Philippi Melanthonis Latinam, 1581]. Zu der andern
Stund, von neun biß zehen Uhr, soll Ovidius de Tristibus
[Ovid, Tristia] gleicher gestalt als Morgens Epistolae Ci-
ceronis [Cicero, Epistolae] tractiert werden.
o Separatdruck 1559: Versus.
p Separatdruck 1559: dises.

63 Melanchthons Grammatik wurde im Laufe des 16. Jahr-
hunderts vielfach erweitert und häufig herausgebracht.
Die Ausgabe „ultima aeditio“ kann diejenige von 1558
oder 1559 sein, siehe VD 16 M 3382 und 3383.
64 Georg Major (Maier), Quaestiones rhetorica ex libris
M. T. Ciceronis, Quintiliani et Philippi Melanthonis,
Magdeburg 1535. Zu Georg Major siehe BBKL 14, Sp.
1224-1227; Dingel/Wartenberg, Georg Major; vgl.
Berwald, Rhetoriklehrbücher, S. 111-122; ders., Sicht
der Rhetorik.

541
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften