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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]; Sprengler-Ruppenthal, Anneliese [Bearb.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (7. Band = Niedersachsen, 2. Hälfte, 2. Halbband, 1. Teil): Stift Hildesheim, Stadt Hildesheim, Grafschaft Oldenburg und Herrschaft Jever — Tübingen: J.B.C. Mohr (Paul Siebeck), 1980

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https://doi.org/10.11588/diglit.32954#0272
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Kirchenordnung 1573

Frag:
Hat auch der mensch nach dem fall, da er
gesündigt und den heiligen Geist verloren,
dennoch so viel tugend und kraft behalten,
das er aus natürlichem vermügen sich
könne zu Gott bekeren und from und selig
werden ?
Antwort:
Keinesweges, und sol allhie von vleissigen, ge-
schickten pastoribus die ganze lere vom freien willen
one ergerliche weitleuftigkeit und frömbdes dispu-
tiern einfeltig gehandlet und erkleret werden. Denn
dis ist auch eins von den fürnembsten stücken,
welche in des bapsts lere streiten wider die reine
lere des heiligen göttlichen worts?. Nun wird itziger
zeit von demselben artikel allerley gedisputiert8,
dardurch einfeltige pastores möchten gefüret wer-
den entweder auf die pelagianische und papistische
synergiam voluntatis non renatae in actionibus
spiritualibus oder auf enthusiasticos raptus, welcher

7Das im ,,Kurzen, einfeltigen... bericht..." des
Chemnitz ,,Vom freyen willen." überschriebene Ka-
pitel beginnt: ,,Diß ist auch eins von den fürnemsten
stücken, welche in des bapsts lehre streiten wieder
die reine lehre des heiligen göttlichen worts."; vgl.
Sehling VI, 1, 114. — Dazu CA und Apologie, Art.
II und XVIII, Bek. Schr., 52f. 70ft. 145if. 311 ff.
8Vgl. FC, Solida declaratio II, Bek. Schr., 871 ff.:
,,Dann der ein teil hat gehalten und gelehret, ob-
wohl der mensch aus eignen kräften nicht vermöge,
Gottes gebot zu erfüllen, Gott wahrhaftig trauen,
förchten und lieben, ohne die gnade des heiligen
Geistes, doch hab er noch soviel natürlicher kräften
vor der wiedergeburt überig, daß er etlichermaßen
sich zu der gnade bereiten und das jawort, doch
schwächlich, geben, aber, wenn die gnade des heili-
gen Geistes nicht darzu käme, darmit nichts aus-
richten könnte, sunder im kampf darniederliegen
müßte... haben die reinen lehrer Aug. Konfession
gelehret und gestritten, daß der mensch durch den
fall unser ersten eltern also vorderbt, daß er in gött-
lichen sachen, unsere bekehrung und seel seligkeit
belangend, von natur blinde, wenn Gottes wort ge-
predigt wird, dasselbige nicht verstehe noch verstehn
könnte, sunder für ein torheit halte, auch aus ihme
selbst sich nicht zu Gott nähere, sunder ein feind
Gottes sei und bleibe, bis er mit der kraft des heiligen
Geists durch das gepredigt und gehört wort aus lau-
ter gnad ohn alles sein zuton bekehret, gläubig,
wiedergeboren und erneuert werde." - Siehe dazu
die Kommentierung aaO. - ,,der ein teil": dazu ge-

keines nicht taug. Derhalben das der bepstische
saurteig auch in diesen artikel aus diesen kirchen
müge rein ausgefeget werden und nicht etwa ander
unreinigkeit müge wider mit einschleichen, dadurch
die pastores zweydrechtig und die auditores ver-
wirret möchten werden, sol allhie kurzer bericht
getan und einfeltige anleitung gegeben werden, wie
die pastores ex Confessione Augustana et Apologia
nach Gottes wort die lere von diesem artikel mit
gebürlichem unterscheid fassen und mit christlicher
bescheidenheit den leuten fürtragen mügen9.
Und erstlich,wiewol die menschliche natur durch
die sünde jemerlich durchgiftet und verderbet ist,
so ist doch gleichwol damit des menschen natur
nicht in stein oder holz verwandelt noch in eines
gar unvernünftigen tiers wesen verkehrt, sondern
hat behalten nach dem fall leib und seele, und wie
18. articulus Confessionis10 ex Augustino11 meldet,
menschlichen verstand, vernunft, willen, natürliche
krefte und vermögen, nicht in geistlichen, göttlichen
sachen, sondern in hendeln dieser welt und dieses
hörte bereits Melanchthon, Loci seit 1535; CR 21,
373ff. 652if.; vgl. MW II, 1, 2361f.; CA var., Art.
XVIII; CR 26, 362; MW VI, 23 ff. Über den ganzen
Streit vgl. Martin Chemnitz, De controversiis
quibusdam, quae superiori tempore circa quosdam
Aug. Conf. articulos motae ac agitatae sunt iudicium
1561, hrsg. von Polycarp Leyser 1594.
9 Von dem in Anm. 7 bezeichneten Passus an bis hier
wörtlich nach Chemnitz, Kurzer, einfeltiger...
bericht, Sehling VI, 1, 114. - Auf die Nähe des
Textes zur FC ist schon aaO. hingewiesen worden.
Vgl. Epitome II, Bek. Schr., 779: ,,Item, wir vor-
werfen und vordammen auch den irrtum der enthu-
siasten, welche dichten, daß Gott ohne mittel, ohne
gehör Gottes worts... die menschen zu sich ziehe...".
Vgl. auch Solida declaratio II, Bek. Schr., 872. - Zu
den ,,neuen enthusiasten" oder den ,,Schwärmern",
,,Schwarmgeistern" siehe K.Holl, Luther und die
Schwärmer, in: Gesammelte Aufsätze zur Kirchen-
geschichte I7. 1948, 420ff.; H. Gerdes, Luthers
Streit mit den Schwärmern um das rechte Verständ-
nis des Gesetzes Mose. 1955; G. Maron, Individua-
lismus und Gemeinschaft bei Caspar von Schwenck-
feld. 1961; ders., RGG=* V, 1620ff.; A. Adam,
Lehrbuch der Dogmengeschichte II. 1968, 339 f.
Weitere Lit. zu Schwenckfeld. Vgl. auch Sehling
VII, 1, 361 f.
10 Bek. Schr., 71.
11 Pseudo-Augustin, Hypomnesticon contra Pelagianos
et Coelestianos III, 4, 5; MSL 45, 1623.

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