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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (8. Band = Hessen, 1. Hälfte): Die gemeinsamen Ordnungen — Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1965

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https://doi.org/10.11588/diglit.30457#0038
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Zunächst war die Ordnung nur für die Kirchen zu Kassel geplant, aber doch mit der Hoffnung,
daß sich dieser Übung auch die anderen Gemeinden der hessischen Kirche anschließen möchten, bei
denen die mannigfachsten Agenden in Gebrauch waren6. Diese Hofjnung hat sich im direkten Gange
nur sehr begrenzt erfüllt7 8; dagegen hat die Kirchenordnung durch die Aufnahme in die große Landes-
agende von 1566 ihre dauernde Bedeutung erlangt. Diese aber nimmt vor allem - über den Marburger
Text hinaus - einen umfangreichen Teil der liturgischen Formulare des Erfurter Druckes auf8, auch
benutzt sie ausdrücklich den Erfurter Druck, wenn sie die Gebete der Kasseler Ordnung verwendet
wissen will9, die allein dieser Druck enthält.
Da der Erfurter Druck durch seine Aufnahme in die späteren hessischen Agenden eine so große
Bedeutung für das liturgische Leben Hessens erlangt, muß die Frage nach der Herkunft der ihm eigenen
Elemente gestellt werden. Während das Corpus der Ordnung, das im Marburger Druck vorliegt, eine
selbständige Formung, zwar in Anlehnung an Straßburger Traditionen, darstellt, nimmt der Erfurter
Druck formuliertes Gut 1) der Straßburger Ordnungen10, 2) der Brandenburg-Nürnberger Kirchen-
ordnung von 153311 und 3) mittelalterlicher Herkunft12 (vertreten durch das Rituale und - auf dieses
zurückweisend - durch Teile in Luthers Entwürfen) auf. Charakteristisch für die Traditionskette, in
der sowohl der Marburger als auch der Erfurter Druck stehen, sind seine Auslassungen gegenüber der
herkömmlichen mittelalterlichen Praxis: Exorzismus und Nottaufe (als Ausübung durch Laien) fehlen
in dem Abschnitt von der Taufe13.
Über die Frage nach der Herkunft der in der Kasseler Kirchenordnung sich niederschlagenden
Traditionen hinausgehend, kann, insbesondere im Blick auf das Taufformular, der Charakter der Ord-
nung ermittelt werden14: Luther und dem Rituale geht es darum, das Geschehen des Sakraments unab-
hängig von einem menschlichen ,,Beitrag“ rein als göttliches Handeln darzustellen und hochzuhalten.
So fehlt in diesen beiden Formularen jede ,,Vermahnung“ an die ,,Gevattern“ oder an die Gemeinde,
es fehlt auch die Erklärung dessen, was die Taufe ist und will. Ganz anders die Ordnung von 1539:
Hier steht die Gemeinde dem göttlichen Handeln gegenüber, und es soll auf ein Mitgehen dieser Ge-
meinde auf sittlichem und rationalem Gebiet hingearbeitet werden15. Die Gemeinde soll den Gang der
Handlung verstehend durchleben16, daher auch der stark pädagogische Ton der Ordnung17. Gegenüber
Luther wird deutlich, daß das Individuum innerhalb der Gemeinschajt stärker entdeckt ist, ihm kann
die Handlung der Taufe erklärt und ihm kann in Ermahnungen die rechte Handlungsweise aufgezeigt
werden18.
So weist der Charakter der KO auf, daß sie vorwiegend dem Einflußbereich Straßburgs angehört,
von hier aus versucht dann die Ordnung, Elemente der lutherischen Tradition bzw. des Rituale aufzu-
nehmen. Sie bildet damit ein typisches Dokument hessischer Reformation, deren Charakter es ist, durch
Rezeption von Traditionselementen verschiedener Bereiche eine Mittelstellung innerhalb der protestan-
tischen Territorien zu bewahren19.

6 Vgl. S. 183.
7 W. Diehl, Zur Geschichte des Gottesdienstes 157.
8 Vgl. S. 197.
9 S. 262. 10 Vgl. S. 116ff. 11 Vgl.S.129f. 12Vgl. S. 118f.
13 So ebenso in den Straßburger Ordnungen seit 1525, vgl. Hubert, 37 ff ; W. Diehl aaO. 292 f.
14 Zum folgenden vgl.W. Diehl aaO. 282 ff.
15 Daher die Ermahnungen ad ecclesiam (S. 115. 126) und die Erklärungen (S. 119).
16 W. Diehl aaO. 282.
17 Vgl. etwa S. 129.
18 W. Diehl aaO. 284.
19 Da Vilmar (Confessionsstand 49) von der Voraussetzung des lutherischen Charakters der hessischen Kirche aus-
geht, kann er die Einigungsversuche des hessischen Landgrafen nur als ,,System des Aequibrierens“ und als
,,Nichtachtung des kirchlichen Rechts und der kirchlichen Ordnung“ betrachten.

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