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Wolgast, Eike [Editor]; Seebaß, Gottfried [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Editor]; Sehling, Emil [Bibliogr. antecedent]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (8. Band = Hessen, 1. Hälfte): Die gemeinsamen Ordnungen — Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1965

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https://doi.org/10.11588/diglit.30457#0044
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forme Gestalt zu geben; vielmehr versucht sie, die Verschiedenheiten, die sich während der vierzig Jahre
hessischer Reformationsgeschichte herausgebildet haben, stehenzulassen, anzuerkennen, ja sogar zu
begründen24. Diese Begründungen und Erörterungen gibt sie mit Hilfe des bewußt aufgenommenen
Traditionsgutes. Und von hier aus wird die Klammer deutlich, die das Streben der hessischen Kirche
nach der Einheit der Kirche Jesu Christi einerseits und ihre Rezeption vorgegebenen Traditionsgutes
andererseits verbindet: Die hessische Kirche versucht (in der Nachfolge Bucers), die Einheit der Kirche
Christi auch bei bestehender äußerer Vielfalt der Handlungen und Gebräuche - durch Aufnahme und
Verarbeitung vor allem altkirchlichen Gutes - herzustellen. Aus diesem Versuche ergibt sich für ihr Selbst-
verständnis, daß sie sich (1566!) nicht primär als eine in einer bestimmten Richtung geprägte reforma-
torische Kirche versteht, sondern vielmehr als die erneuerte antiqua ecclesia.
Die Kirchenordnung hat Überlieferungsgut aus ihr vorliegenden Quellen25 entnommen, die recht
verschiedener Art und Herkunft sind. Dabei lassen sich rechtlich-dogmatische und liturgische Vor-
lagen unterscheiden, und es läßt sich an Hand der Benutzung dieser vorgegebenen Quellen feststellen,
wie die Ordnung ihre Auswahl getroffen hat26.
1. Am einfachsten und in der Reformationszeit am häufigsten angewandt ist die fortlaufende Tra-
dierung eines vorliegenden Textes; eine Auswahl von Traditionselementen verschiedener Herkunft
existiert hier nicht. Die Ordnung gebraucht diese Art der Tradierung an ihrem Schlusse, wo sie ein
zusammenhängendes Stück aus dem Agendbüchlein des Veit Dietrich übernimmt27.
2. Jedoch eine andere Art der Tradierung ist weitaus häufiger: Als charakterisierendes Merkmal
der KO fällt die häufige Zitierung der Kirchenväter auf. Der Versuch einer traditionsgeschichtlichen Her-
leitung der verwendeten Kirchenväterzitate an Hand der Vergleichung von Zitatreihen28 führt zu folgen-
den Ergebnissen:
a) In dem Abschnitt über die Schriftlehre29 läßt sich in der Art der Zitierung ein bestimmter
Charakter erheben. Es werden die verschiedensten Vorlagen30 benutzt, am deutlichsten ist das Decretum31

24 Daher die unterschiedliche Beurteilung etwa der Nottaufe, vgl. S. 282f.
25 Zur Definition von ,,Tradition“ und ,,Quelle“: Die Tradition ist auf reformatorischem Boden durch Vorlagen oder
Quellen gegeben, damit ist die Tradition selbst eine Quelle von besonderem Rang. Diesem Charakter der Tradition
entspringt es zum Teil, daß die Reformationszeit ihr in Freiheit und Auswahl begegnen kann. — So kann ,,Tradi-
tion“ auch bald alte, bald reformatorische bedeuten, da einerseits alte, andererseits reformatorische Quellen
als Vorlagen verwendet wurden.
26 Das Ziel der folgenden kurzen Charakterisierung liegt darin, aufzuzeigen, daß es bestimmendes Merkmal der KO
ist, sich weithin nicht einer Tradition oder Traditionskette anzuschließen, sondern jeweils eklektisch gegenüber
den von ihr benutzten Traditionselementen älterer und jüngerer Zeit zu verfahren.
27 Es handelt sich um die Texte S. 330 bis S. 335, sie sind aus der KO in die folgenden Ordnungen übernommen
worden. — Lag hier keine Vorlage des Hyperius mehr vor? oder ist eine solche zugunsten des Textes aus dem Agend-
büchlein beiseite gelassen worden ?
28 Der Nachweis einer Fremdbedingtheit der Ordnung kann überall da leichter getroffen werden, wo ganze Zitat-
reihen mit denen eines anderen Dokuments übereinstimmen. Der Vergleich von einzelnen Zitaten belastet den
Nachweis mit einem größeren Unsicherheitsmoment, was die gegenseitige Abhängigkeit betrifft, da manche Zitate
als Belege in mehreren Dokumenten einer Zeit verwendet werden (vgl. S. 180), es sei denn, daß es sich einerseits
um selten gebrauchte Zitate handelt und daß andererseits die angezogene Quelle an anderen Stellen der Ordnung
sich als Vorlage erweisen läßt.
29 Es handelt sich dabei um die Zitate S. 214 bis S. 217, die teils lediglich als Verweis, teils als ausführliches Zitat
gegeben werden (vgl. die beiden folg. Anm.).
30 Die Kirchenväterstellen, die in der Form des einfachen Verweises aufgezählt werden (in einer ersten Gruppe ledig-
lich Augustin-Verweise, S. 214, denen eine zweite Gruppe von Hieronymus-Verweisen wenig später folgt S. 216),
erhalten dadurch den Charakter einer Massen-Catene, bzw. eines Florilegiums, in der zu einer bestimmten dogma-
tischen Entscheidung (etwa Verständnis der Schrift aus der Ursprache) möglichst viele Belegstellen angeführt
werden. Etwas Endgültiges kann in Ermangelung hinreichender Florilegienliteratur nicht gesagt werden, vor
allem nicht, ob und welches Florilegium die Ordnung etwa benutzt hätte. — Zur Literatur vgl. K. Holl, Die Sacra
Parallela des Johannes Damascenus, TU NF I, 1 (der ganzen Reihe 16. Bd.), 1897; Th. Schermann, Die

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