Kirchenordnung 1566
fehlt: Gedenket der gebundenen (spricht der apo-
stel, Hebr. 13, 3) als die mitgebundene und deren,
die trübsal leiden, als die ihr auch desselbigen leibs
glieder seid. Wiewol aber dieses gesagt ist und ver-
standen werden soll vornemlich von denen, so da
unschüldig umb des bekantnus des glaubens willen
gebunden und gefangen werden, jedoch wird es nicht
unbillich auf die brüder und schwestern gezogen,
welche der teufel ubereilet und dahin vermocht und
bewegt hat, daß sie die gesetze und gebotte der
obergkeit mit diebstal, brand, mord, reuberei und
dergleichen ubertretung und also die leibstraff ver-
dienet und das leben verwirket haben; denn mit
denselbigen soll man auch ein christliches mitleiden
tragen, sie zu warer buß und bekerung zu Gott an-
kalten und mit bestendigem geistlichem trost, daß
sie in ihrem elend nicht an Gottes gnad verzweifeln,
nottürftiglich und gnugsam versehen, in ansehens,
daß, wo uns Gott nicht erhelt und für solcher schwe-
ren ubertretung gnediglich behütet, ist unser kei-
ner, den der teufel mit seiner list und betrug nicht
auch zu einem gleichen oder vielleicht in ein grö-
ßeren und schwereren fall bringen möcht. Denn es
hat der heilig Augustinus ganz wol und warhaftig
gesagt35, es sei kein sünde jemals von einem men-
schen begangen, welche ein ander mensch nicht auch
tun künd, wenn Gott sein hand von ihme abtete.
Lieben brüder, sagt Paulus (Gal6, 1 f), so ein mensch
mit einem feele ubereilet wird, so underweiset ihn
mit sanftmütigem geist, die ihr geistlich seid; und
sihe auf dich selbst, daß du nicht auch versuchet
werdest. Einer trage des andern last, so werdet ihr
das gesetz Christi erfüllen. Wo ein christ an dem
andern irtumb in christlicher lehr oder feel und man-
gel an aufrichtigem gottseligem leben vernimpt, soll
er ihne aufs allerfreundlichst vermanen und dahin
halten, daß er davon abstehe und auf den rechten
weg sich widerumb begebe; und seind insonderheit
die vorsteher und diener der kirchen verpflichtet,
daß sie alle irrigen beizeiten zurechtbringen, daß sie
der teufel nicht genzlich in seine stricke bringe und
mit sünden dermaßen belade und uberschütte, daß
sie darin steckenbleiben und endlich an Gottes gna-
den verzweifeln müssen. Ist man das nun schuldig
zu tun auch bei denen, welchen das leben durch die
politischen gesetze nicht abgeschnitten wird, son-
dern ist gut hoffnung, Gott werde sie noch ein zeit-
lang alhie in diesem leben erhalten, da er ihnen denn
noch allerlei gute mittel und wege zur besserung
geben kann, wie viel mehr soll es an denen ge-
schehen, welche zum tod verurteilt und also hinfur-
ter aller gelegenheit zur christlichen bekerung ent-
setzet und beraubet werden sollen. Da will mit gro-
ßem fleiß zu gesehen und dahin getrachtet sein,
daß solche leut zu Gott bekeret werden und in warem
glauben und vertrauen auf den Sohn Gottes abschei-
den, auf daß sie nicht ihrer sünden und der schanden
halber, so sie umb der sünden willen leiden müssen,
in verzweifelung fallen und zu der zeitlichen schand
und tod auch die ewige schand und tod ohn ende
und aufhörens tragen müssen. Es ist kein buße und
bekerung zu Gott zu spat und langsam, wenn sie
nur geschicht in diesem leben. Und ist kein sünde
so groß, die den bußfertigen nicht möge vergeben
werden, wie das Gott im Ezechiel bezeugt, 33 [12]:
Wenn ein gottloser frumm wird, so soll es ihm nichts
schaden, daß er gottlos gewesen ist. Item: So war
als ich lebe, spricht Gott am selbigen ort [33, 11],
ich hab nicht gefallen am tod des gottlosen, sondern
daß sich der gottlose bekere und lebe. Und der heilig
Paulus spricht, Gottes gnad sei größer denn alle
sünde, Rom. 5 [21]. Sie will aber in diesem leben er-
kent, gesucht und geglaubt sein. Und ob man gleich
sein leben lang nicht viel nach Gott gefraget hette,
darfür doch ein jeder christ sich zum fleißigsten hüten
und versehen soll (denn Gott ist ein gerechter und
ernster richter und leßt sich nicht spotten), wenn
man doch nur am allerletzten zu Gott mit rechtem
glauben seufzen und schreien kann, soll man an sei-
ner gnad und barmherzigkeit nicht verzagen, wie
wir des ein herrlich exempel haben an dem mörder,
so mit dem Herrn Christo gekreuziget ward [Luk
23, 39-43]. Denn der Herr, da er ihn bat, er solt sei-
ner gedenken, wenn er in sein reich keme, verheißt,
er solle denselbigen tag noch bei ihme im paradeis
sein. Derhalben soll man diejenigen, so den leib-
lichen tod verdienet haben, nicht darfür halten, als
ob sie derhalben auch von Gott verstoßen und des
35 Augustinus vgl.: De diversis quaestionibus ad simplicianum 1, 2, 12; MPL 40, 117f.
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fehlt: Gedenket der gebundenen (spricht der apo-
stel, Hebr. 13, 3) als die mitgebundene und deren,
die trübsal leiden, als die ihr auch desselbigen leibs
glieder seid. Wiewol aber dieses gesagt ist und ver-
standen werden soll vornemlich von denen, so da
unschüldig umb des bekantnus des glaubens willen
gebunden und gefangen werden, jedoch wird es nicht
unbillich auf die brüder und schwestern gezogen,
welche der teufel ubereilet und dahin vermocht und
bewegt hat, daß sie die gesetze und gebotte der
obergkeit mit diebstal, brand, mord, reuberei und
dergleichen ubertretung und also die leibstraff ver-
dienet und das leben verwirket haben; denn mit
denselbigen soll man auch ein christliches mitleiden
tragen, sie zu warer buß und bekerung zu Gott an-
kalten und mit bestendigem geistlichem trost, daß
sie in ihrem elend nicht an Gottes gnad verzweifeln,
nottürftiglich und gnugsam versehen, in ansehens,
daß, wo uns Gott nicht erhelt und für solcher schwe-
ren ubertretung gnediglich behütet, ist unser kei-
ner, den der teufel mit seiner list und betrug nicht
auch zu einem gleichen oder vielleicht in ein grö-
ßeren und schwereren fall bringen möcht. Denn es
hat der heilig Augustinus ganz wol und warhaftig
gesagt35, es sei kein sünde jemals von einem men-
schen begangen, welche ein ander mensch nicht auch
tun künd, wenn Gott sein hand von ihme abtete.
Lieben brüder, sagt Paulus (Gal6, 1 f), so ein mensch
mit einem feele ubereilet wird, so underweiset ihn
mit sanftmütigem geist, die ihr geistlich seid; und
sihe auf dich selbst, daß du nicht auch versuchet
werdest. Einer trage des andern last, so werdet ihr
das gesetz Christi erfüllen. Wo ein christ an dem
andern irtumb in christlicher lehr oder feel und man-
gel an aufrichtigem gottseligem leben vernimpt, soll
er ihne aufs allerfreundlichst vermanen und dahin
halten, daß er davon abstehe und auf den rechten
weg sich widerumb begebe; und seind insonderheit
die vorsteher und diener der kirchen verpflichtet,
daß sie alle irrigen beizeiten zurechtbringen, daß sie
der teufel nicht genzlich in seine stricke bringe und
mit sünden dermaßen belade und uberschütte, daß
sie darin steckenbleiben und endlich an Gottes gna-
den verzweifeln müssen. Ist man das nun schuldig
zu tun auch bei denen, welchen das leben durch die
politischen gesetze nicht abgeschnitten wird, son-
dern ist gut hoffnung, Gott werde sie noch ein zeit-
lang alhie in diesem leben erhalten, da er ihnen denn
noch allerlei gute mittel und wege zur besserung
geben kann, wie viel mehr soll es an denen ge-
schehen, welche zum tod verurteilt und also hinfur-
ter aller gelegenheit zur christlichen bekerung ent-
setzet und beraubet werden sollen. Da will mit gro-
ßem fleiß zu gesehen und dahin getrachtet sein,
daß solche leut zu Gott bekeret werden und in warem
glauben und vertrauen auf den Sohn Gottes abschei-
den, auf daß sie nicht ihrer sünden und der schanden
halber, so sie umb der sünden willen leiden müssen,
in verzweifelung fallen und zu der zeitlichen schand
und tod auch die ewige schand und tod ohn ende
und aufhörens tragen müssen. Es ist kein buße und
bekerung zu Gott zu spat und langsam, wenn sie
nur geschicht in diesem leben. Und ist kein sünde
so groß, die den bußfertigen nicht möge vergeben
werden, wie das Gott im Ezechiel bezeugt, 33 [12]:
Wenn ein gottloser frumm wird, so soll es ihm nichts
schaden, daß er gottlos gewesen ist. Item: So war
als ich lebe, spricht Gott am selbigen ort [33, 11],
ich hab nicht gefallen am tod des gottlosen, sondern
daß sich der gottlose bekere und lebe. Und der heilig
Paulus spricht, Gottes gnad sei größer denn alle
sünde, Rom. 5 [21]. Sie will aber in diesem leben er-
kent, gesucht und geglaubt sein. Und ob man gleich
sein leben lang nicht viel nach Gott gefraget hette,
darfür doch ein jeder christ sich zum fleißigsten hüten
und versehen soll (denn Gott ist ein gerechter und
ernster richter und leßt sich nicht spotten), wenn
man doch nur am allerletzten zu Gott mit rechtem
glauben seufzen und schreien kann, soll man an sei-
ner gnad und barmherzigkeit nicht verzagen, wie
wir des ein herrlich exempel haben an dem mörder,
so mit dem Herrn Christo gekreuziget ward [Luk
23, 39-43]. Denn der Herr, da er ihn bat, er solt sei-
ner gedenken, wenn er in sein reich keme, verheißt,
er solle denselbigen tag noch bei ihme im paradeis
sein. Derhalben soll man diejenigen, so den leib-
lichen tod verdienet haben, nicht darfür halten, als
ob sie derhalben auch von Gott verstoßen und des
35 Augustinus vgl.: De diversis quaestionibus ad simplicianum 1, 2, 12; MPL 40, 117f.
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