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Wolgast, Eike [Editor]; Seebaß, Gottfried [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Editor]; Arend, Sabine [Oth.]; Sehling, Emil [Bibliogr. antecedent]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (9. Band = Hessen, 2): Die geteilte Landgrafschaft Hessen 1582-1618 - Grafschaften Waldeck, Solms, Erbach und Stolberg-Königstein - Reichsstädte Frankfurt, Friedberg, Gelnhausen und Wetzlar — Tübingen: Mohr Siebeck, 2011

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https://doi.org/10.11588/diglit.30289#0688
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Die Reichsstadt Wetzlar

Daneben regelte der Vergleich auch andere strittige Punkte. So hatte der Rat eigenständig Maßnahmen
zur Wiederaufrichtung des durch Blitzschlag zerstörten Kirchturms ergriffen, die er aus den Mitteln des
stiftischen Bauhofs bezahlen ließ. Der Vergleich legte fest, dass sämtliche Baurechte an der Stiftskirche
allein dem Jurisdiktionsbereich des Erzbischofs unterstünden.29 Auch durfte der Rat vom Stift kein „Mahl-
geld“ mehr für das in der Stiftsmühle zum eigenen Verbrauch der Kanoniker gemahlene Mehl verlangen.30
Der Trierer Erzbischof ging außerdem auf das Gesuch des Rats ein, der evangelischen Gemeinde mit der
Walpurgiskapelle ein eigenes Gotteshaus zur Verfügung zu stellen, indem er das Stift am 4. Oktober 1561
anwies, den Protestanten die Kirche zu überlassen, um somit durch die räumliche Trennung den Frieden
zwischen beiden Seiten wiederherzustellen.31 Aus einem 1562 verfassten Brief des Kapitels an den Erzbi-
schof geht hervor, dass der evangelische Prediger Johannes Hell in der Walpurgiskapelle Gottesdienste
feierte.32 Der Pfarrer Antonius Wedensis predigte jedoch weiterhin zu den festgesetzten Zeiten in der Mari-
enkirche. Es war also nicht zu einer strikten räumlichen Trennung der Alt- und Neugläubigen gekommen.
Nachdem Antonius Wedensis 1563 verstorben war, nutzten die Kanoniker und die kleine katholische
Gemeinde33 die Marienkirche zunächst allein, da Johannes Hell, der Antonius’ Nachfolger im Pfarramt
geworden war, weiterhin in der Walpurgiskapelle predigte. Hell versuchte jedoch, die Stiftskirche auch für
die Protestanten wiederzugewinnen.34 1567 verschaffte sich die evangelische Gemeinde gewaltsam Zugang
zum Gotteshaus,35 woraufhin die Kanoniker die Stiftskirche demonstrativ verließen. Erst vier Jahre später,
am 4. September 1571, zogen sie wieder in die Marienkirche ein. Mit diesem Jahr wurde das Wetzlarer
Simultaneum begründet, das der großen evangelischen Gemeinde das Langhaus, den Kanonikern und der
katholischen Minderheit den Chor zuwies, und das dauerhaft Bestand haben sollte.36
Der Vergleich zwischen dem Stift und der Reichsstadt ist im Archiv des Wetzlarer Marienstifts in zwei
Fassungen überliefert, in einem sehr beschädigten Original und in einer unversehrten Abschrift. Die Fehl-
stellen des Originals wurden in unserer Edition mithilfe der Abschrift ergänzt.
Zur Wetzlarer Kirchenordnung
Für die evangelische Gemeinde in Wetzlar wurde vermutlich keine eigenständige Kirchenordnung ausge-
arbeitet. In einem Brief, den der Prediger Johannes Hell 1565 an den Rat sandte, findet sich jedoch ein
Hinweis auf verschiedene Regelwerke anderer Territorien und Reichsstädte, die in Wetzlar Anwendung
fanden. Hell stellte in seinem Schreiben zahlreiche Forderungen an den Rat, wie das evangelische Kirchen-
wesen verbessert werden könnte. Er bat unter anderem, der Rat möge zeit vergunden, kinderlehr zuhalten
und was sonst zu einer christlichen kirchenordnung mit einleitung der eheleud, begrebnußen etc. nach der Bran-

29 Zu der seit dem 13. Jahrhundert geführten Auseinander-
setzung zwischen Stift und Magistrat um die Nutzungs-
rechte am Bauhof siehe Schulten, Zwo Religionen,
S. 86-91.
30 Schulten, Marienstift, S. 150-154; Bock, Wetzlarer
Dom, S. 75f.; Jacobson, Geschichte, S. 755.
31 AWM Wetzlar, 1561-3: unnd nachdem wir des closters
halb nit wenig bedenckens tragenn, so mögenn wir woll lei-
denn, das ir inen [i. e. den Evangelischen] zu iren predi-
genn die St. Waltpurgenn kirchenn biß uf unser ferner
erclerungh unnd widderruffen eröfnet unnd einraumet.
32 AWM Wetzlar, 1562-6.
33 Man kann annehmen, dass die katholische Gemeinde
bereits zu dieser Zeit gemeinsam mit den Stiftsgeistli-
chen im Chor der Marienkirche ihre Messen feierte, wie

dies schließlich für 1571 bezeugt ist, Schulten, Zwo
religionen, S. 103f.
34 Nach einer Erklärung der Stiftsherren vom 19. Dezem-
ber 1563 war die evangelische Gemeinde zu dieser Zeit
neben der Walpurgiskapelle bereits im Besitz der Hos-
pitalkapelle sowie der Kirche des Franziskanerklosters,
AWM Wetzlar, 1563-3; vgl. Schulten, Zwo religionen,
S. 101.
35 Dass die Protestanten hiermit ihren Anspruch auf
Alleinbesitz der Kirche geltend machen wollten, wie
Schulten, Zwo religionen, S. 103 annimmt, erscheint
jedoch nicht zwingend.
36 Schulten, Zwo religionen, S. 99, 103-142; Schind-
ling/Schmidt, Frankfurt, S. 56; Schieber, Norm-
durchsetzung, S. 25; Franz, Bestrebungen, S. 669.

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