Die Reichsstadt Wetzlar
4. Dekret zur Aufnahme der französisch-reformierten Flüchtlingsgemeinde 19. September 1586 (Text
5. 678)
5. Dekret für die französisch-reformierte Flüchtlingsgemeinde 23. März 1596 (Text S. 679)
Nachdem Herzog Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg 1585 die katholische Prinzessin Jacobe von
Baden geheiratet hatte und es in Folge des Truchsessischen und Kölnischen Krieges zu Unruhen gekommen
war, brach die wallonische französisch-reformierte Flüchtlingsgemeinde, die in der niederrheinischen Han-
sestadt Wesel Zuflucht gefunden hatte, auseinander. Rund 60 Familien fanden Aufnahme in Wetzlar. Der
Rat der entvölkerten und wirtschaftlich heruntergekommenen Reichsstadt zeigte großes Interesse an den
Fremden, die nicht nur eine willkommene Vermehrung der reichsstädtischen Bevölkerung verhießen, son-
dern, da die Flüchtlinge größtenteils Wollweber waren, auch wirtschaftlichen Aufschwung für das Wetzlarer
Textilgewerbe.46
Am 19. September 1586 erließ der Rat ein Aufnahmedekret (Nr. 4), mit dem er sein Interesse an den
Fremden durch zahlreiche Vergünstigungen unterstrich: Die Glaubensflüchtlinge wurden in das Bürger-
recht aufgenommen und für die ersten vier Jahre vom Wach- und Frondienst entbunden. Sie durften eine
eigene Kirchengemeinde bilden und Gottesdienste in ihrer französischen Muttersprache feiern.47 Die refor-
mierte Flüchtlingsgemeinde nutzte hierfür zunächst den Chor der ehemaligen Franziskanerkirche. Den
einheimischen Lutheranern blieb hingegen das Kirchenschiff vorbehalten.48 Damit war neben dem Simul-
taneum am Marienstift, das von Lutheranern und Katholiken geprägt war, auch eines der Lutheraner und
Reformierten an der Kirche des Franziskanerklosters entstanden.49
Ende des 16. Jahrhunderts war Wetzlar also eine multikonfessionelle Stadt: Neben der lutherischen
Gemeinde, die mit rund 2600 Personen den größten Anteil unter der Stadtbevölkerung ausmachte, und der
reformierten Gemeinde mit ca. 350 Personen, lebten noch rund 50 Katholiken in der Reichsstadt.50
Die Flüchtlinge aus Wesel konsolidierten ihre Glaubensgemeinschaft in Wetzlar. Als jedoch 1595 Magi-
ster Guillaume Hespel Pfarrer geworden war, begann eine Zeit der Streitigkeiten. Hespel übte strenge
Kirchenzucht und kam dadurch in Konflikt mit einigen Gemeindegliedern, die sich beim Rat beschwerten.
Daraufhin sandte Hespel im Namen der Mehrzahl der Gemeindeglieder einen Bericht an den Rat. Darin
46 Cuno, Geschichte, S. 4; Flender, Franziskanerkloster,
S. 47; Jacobson, Geschichte, S. 756; Schieber, Norm-
durchsetzung, S. 26; Hahn, Bürgertum, S. 15, 22;
Abicht, Geschichte 3, S. 152; Lottes, Religionspoli-
tik, S. 58. Einen Einblick in die städtischen Verhältnisse
im Jahre 1567 bietet die „Relation der vom oberrheini-
schen Kreise nach Wetzlar zur Prüfung der Gravamina
der Stadt um Moderation der Reichsanlagen entsandten
Inquisitoren“, Abdruck in Veltmann, Wetzlar, S. 133-
142.
47 Anfangs noch ein Privileg, wurde diese Regelung zuneh-
mend zum Hemmnis, denn die Gemeinde integrierte sich
schnell und sprach immer weniger Französisch, aber der
Rat gestattete den reformierten Pfarrern erst 1672, ihre
Gottesdienste auf Deutsch zu feiern, Schieber, Norm-
durchsetzung, S. 26; Lottes, Religionspolitik, S. 59;
Flender, Franziskanerkloster, S. 48.
48 Chelius, Kurtze Beschreibung, S. 5: Das Chor in solcher
Barfüßer Kirch ist in Anno 1586 den 19. Septemb. auff
Ansuchen deren damals wegen der Religion auß den Spa-
nischen Niederlanden vertriebenen ... sechzig paar Ehe-
volcks Reformierter Religion zum Gebrauch ihres Exercitii
Religionis in Frantzösischer Sprach von dem Magistrat ...
eingegeben gewesen. 1555 war die Klosterkirche in den
Besitz der Stadt übergegangen, die Konventsgebäude
hingegen im Besitz des Ordens geblieben, Schulten,
Marienstift, S. 151; Schindling/Schmidt, Frankfurt,
S. 55; Jacobson, Geschichte, S. 756. Dass der Rat den
Glaubensflüchtlingen mit dem Dekret vom 19. Septem-
ber 1586 den Chor der Barfüßerkirche als Ort für ihre
Gottesdienste zuwies, wie Flender, Franziskanerklo-
ster, S. 48 annimmt, ist nicht zutreffend.
49 Lottes, Religionspolitk, S. 58. Als Wetzlar 1626 von
spanischen Truppen besetzt war, wurde dem Franziska-
nerorden sein 1555 aufgelöstes Kloster zurückgegeben.
Die kleine reformierte Gemeinde wich in die Stiftskirche
aus, wodurch hier für kurze Zeit ein trikonfessionelles
Simultaneum bestand, Lottes, Religionspolitik, S. 59.
Zur Fortsetzung der verschiedenartigen Simultanver-
hältnisse bis ins 20. Jahrhundert siehe ebd., S. 59-63;
Bock, Wetzlarer Dom, S. 75-89.
50 Schindling/Schmidt, Frankfurt, S. 56; Flender,
Franziskanerkloster, S. 48.
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4. Dekret zur Aufnahme der französisch-reformierten Flüchtlingsgemeinde 19. September 1586 (Text
5. 678)
5. Dekret für die französisch-reformierte Flüchtlingsgemeinde 23. März 1596 (Text S. 679)
Nachdem Herzog Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg 1585 die katholische Prinzessin Jacobe von
Baden geheiratet hatte und es in Folge des Truchsessischen und Kölnischen Krieges zu Unruhen gekommen
war, brach die wallonische französisch-reformierte Flüchtlingsgemeinde, die in der niederrheinischen Han-
sestadt Wesel Zuflucht gefunden hatte, auseinander. Rund 60 Familien fanden Aufnahme in Wetzlar. Der
Rat der entvölkerten und wirtschaftlich heruntergekommenen Reichsstadt zeigte großes Interesse an den
Fremden, die nicht nur eine willkommene Vermehrung der reichsstädtischen Bevölkerung verhießen, son-
dern, da die Flüchtlinge größtenteils Wollweber waren, auch wirtschaftlichen Aufschwung für das Wetzlarer
Textilgewerbe.46
Am 19. September 1586 erließ der Rat ein Aufnahmedekret (Nr. 4), mit dem er sein Interesse an den
Fremden durch zahlreiche Vergünstigungen unterstrich: Die Glaubensflüchtlinge wurden in das Bürger-
recht aufgenommen und für die ersten vier Jahre vom Wach- und Frondienst entbunden. Sie durften eine
eigene Kirchengemeinde bilden und Gottesdienste in ihrer französischen Muttersprache feiern.47 Die refor-
mierte Flüchtlingsgemeinde nutzte hierfür zunächst den Chor der ehemaligen Franziskanerkirche. Den
einheimischen Lutheranern blieb hingegen das Kirchenschiff vorbehalten.48 Damit war neben dem Simul-
taneum am Marienstift, das von Lutheranern und Katholiken geprägt war, auch eines der Lutheraner und
Reformierten an der Kirche des Franziskanerklosters entstanden.49
Ende des 16. Jahrhunderts war Wetzlar also eine multikonfessionelle Stadt: Neben der lutherischen
Gemeinde, die mit rund 2600 Personen den größten Anteil unter der Stadtbevölkerung ausmachte, und der
reformierten Gemeinde mit ca. 350 Personen, lebten noch rund 50 Katholiken in der Reichsstadt.50
Die Flüchtlinge aus Wesel konsolidierten ihre Glaubensgemeinschaft in Wetzlar. Als jedoch 1595 Magi-
ster Guillaume Hespel Pfarrer geworden war, begann eine Zeit der Streitigkeiten. Hespel übte strenge
Kirchenzucht und kam dadurch in Konflikt mit einigen Gemeindegliedern, die sich beim Rat beschwerten.
Daraufhin sandte Hespel im Namen der Mehrzahl der Gemeindeglieder einen Bericht an den Rat. Darin
46 Cuno, Geschichte, S. 4; Flender, Franziskanerkloster,
S. 47; Jacobson, Geschichte, S. 756; Schieber, Norm-
durchsetzung, S. 26; Hahn, Bürgertum, S. 15, 22;
Abicht, Geschichte 3, S. 152; Lottes, Religionspoli-
tik, S. 58. Einen Einblick in die städtischen Verhältnisse
im Jahre 1567 bietet die „Relation der vom oberrheini-
schen Kreise nach Wetzlar zur Prüfung der Gravamina
der Stadt um Moderation der Reichsanlagen entsandten
Inquisitoren“, Abdruck in Veltmann, Wetzlar, S. 133-
142.
47 Anfangs noch ein Privileg, wurde diese Regelung zuneh-
mend zum Hemmnis, denn die Gemeinde integrierte sich
schnell und sprach immer weniger Französisch, aber der
Rat gestattete den reformierten Pfarrern erst 1672, ihre
Gottesdienste auf Deutsch zu feiern, Schieber, Norm-
durchsetzung, S. 26; Lottes, Religionspolitik, S. 59;
Flender, Franziskanerkloster, S. 48.
48 Chelius, Kurtze Beschreibung, S. 5: Das Chor in solcher
Barfüßer Kirch ist in Anno 1586 den 19. Septemb. auff
Ansuchen deren damals wegen der Religion auß den Spa-
nischen Niederlanden vertriebenen ... sechzig paar Ehe-
volcks Reformierter Religion zum Gebrauch ihres Exercitii
Religionis in Frantzösischer Sprach von dem Magistrat ...
eingegeben gewesen. 1555 war die Klosterkirche in den
Besitz der Stadt übergegangen, die Konventsgebäude
hingegen im Besitz des Ordens geblieben, Schulten,
Marienstift, S. 151; Schindling/Schmidt, Frankfurt,
S. 55; Jacobson, Geschichte, S. 756. Dass der Rat den
Glaubensflüchtlingen mit dem Dekret vom 19. Septem-
ber 1586 den Chor der Barfüßerkirche als Ort für ihre
Gottesdienste zuwies, wie Flender, Franziskanerklo-
ster, S. 48 annimmt, ist nicht zutreffend.
49 Lottes, Religionspolitk, S. 58. Als Wetzlar 1626 von
spanischen Truppen besetzt war, wurde dem Franziska-
nerorden sein 1555 aufgelöstes Kloster zurückgegeben.
Die kleine reformierte Gemeinde wich in die Stiftskirche
aus, wodurch hier für kurze Zeit ein trikonfessionelles
Simultaneum bestand, Lottes, Religionspolitik, S. 59.
Zur Fortsetzung der verschiedenartigen Simultanver-
hältnisse bis ins 20. Jahrhundert siehe ebd., S. 59-63;
Bock, Wetzlarer Dom, S. 75-89.
50 Schindling/Schmidt, Frankfurt, S. 56; Flender,
Franziskanerkloster, S. 48.
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