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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2004
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 10. Juli 2004
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Pfeiffer, Jürgen: Willensfreiheit und Hirnforschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0078
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SITZUNGEN

An der Frage, was in dem Zeitintervall zwischen Bereitschaftspotential und
Bewusstwerdung eines spontanen Entschlusses im Gehirn unbewusst bleibend vor
sich geht, entzündete sich nun eine Diskussion, in der Gerhard Roth und Wolf Sin-
ger das Problem der Willensfreiheit in den Vordergrund rückten. Roth formuliert:
„ Wir sind ohnehin gar nicht frei, denn nicht wir entscheiden, sondern unser Gehirn entscheidet
für uns, etwa 300-400 msec, bevor wir das Gefühl haben, uns gerade jetzt zu entscheiden“.
Die Beeinflussbarkeit von Entscheidungen durch Emotionen hatte Hassenstein
1987 diskutiert. Emotionen, die — jedem einsichtig und durch viele Erfahrungen
belegbar — enge Beziehungen zu den auch von Libet angesprochenen Einflussfakto-
ren Aufmerksamkeit bzw. Ermüdung haben, sind Phänomene, deren Störung wir
inzwischen im Grundsatz bestimmten hirnanatomisch definierbaren Orten zuordnen
können. Wir sprechen von Repräsentation solcher Funktionen, wissen aber inzwi-
schen auch dank neuer bildgebender Verfahren, dass nach einem peripheren Reiz wie
nach einem gedanklichen Einfall die dadurch geweckten Impulse zahlreiche, eng mit-
einander vernetzte Stationen durchlaufen und es kaum eine Hirnaktion gibt, die nicht
mehr oder weniger das gesamte Gehirn einbezieht. Je komplizierter die Denkvor-
gänge und die meist unbewusst bleibenden Auseinandersetzungen mit unseren Emo-
tionen sind, umso mehr Zeit benötigen sie für die Abstimmung unter den verschie-
denen Hirnteilen. Organische Schädigungen vermögen dabei unser Bewusstsein wie
unsere Emotionen und damit auch die Zeitabläufe innerhalb des Hirn-Netzwerkes zu
beeinflussen, so Schäden des Mandelkerns, dessen Funktion wesentlich für unsere
Bewertung einer Situation ist, für die Einschätzung von Gefahren und Risiken, die
Steuerung unserer Affekte und unsere Aggressivität. Jedem erfahrbar sind auch die
vielfältigen Einflüsse seitens unserer Emotionen auf das vegetative Nervensystem oder
unsere Erinnerungsfähigkeit. Beispiele lassen sich auch finden für vorbewusste Erleb-
nisse, bei denen mentale Obertöne mitschwingen, so bei dem „Uber den Rücken
laufen“ oder dem Sich-Sträuben der Haare, - atavistischen, tief in unserem Unterbe-
wusstsein, aber eben auch in unserer Kultur verankerten Vorgängen.
In diesen Grenzbereich gehören auch Instinkt und Intuition sowie unsere Be-
einflussbarkeit zu Handlungen, die wir bei distanzierter Überlegung niemals bege-
hen würden, die wir aber vollziehen in „blindem“ Gehorsam oder in der Erwartung,
dass unsere Handlung so erwünscht sei und gebilligt würde (siehe das Milgram-
Experiment, aber auch unsere politische Vergangenheit und unsere Gegenwart).
Der Großteil unserer Handlungen ist ohnehin nicht mit bewusstem Reflektie-
ren verbunden. Wir haben Vor-Urteile, wir entscheiden gelegentlich „aus dem
Bauch“, sind auch nicht unabhängig von unsere Willensfreiheit einschränkenden
Einflüssen wie Alkohol oder Drogen bis zu den das Hirngewebe selbst schädigenden
Krankheiten, von denen einige Beispiele genannt wurden.
Kommen wir zurück zu den Zeitmessungen: Stolpern wir plötzlich, so reagiert
unser das Gleichgewicht regulierende System unbewusst in einer Geschwindigkeit,
die vergleichbar ist den Millisekunden des erwähnten Bereitschaftspotentials. Und
der Start eines 100-m-Läufers kann dem Startschuss in 130 msec folgen, — also nach
einem Zeitintervall, das kürzer ist als die von den Neurophysiologen gemessenen
Zeitintervalle zum Bewusstwerden.
 
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