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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2005
DOI Kapitel:
Jahresfeier am 21. Mai 2005
DOI Artikel:
Stierle, Karlheinz: Zeitgestalten - Figurationen der Zeitlichkeit in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0033
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46 | JAHRESFEIER

scheint em vollkommenes Kunstwerk, in dem sich Marcels Leben vielfältig spiegelt.
Höhepunkt der Amalgamierung von Kunst und Erinnerung ist der Besuch in der
Arenakapelle von Padua, wo Marcel die Gestalten der Tugenden und Laster Giottos
wiederfindet, deren Postkarten-Photographien schon im Studierzimmer des jungen
Marcel gegenwärtig waren.
Es ist, als habe sich mit dem Besuch von Venedig Marcels Lebensneugierde
erschöpft. Er zieht sich für Jahre, die ausgeblendet bleiben, in em Sanatorium zurück,
in dem sich vielleicht jene ortlose Kammer des Erinnerns situieren läßt, mit der die
erinnerte Flucht der Zimmer beginnt.
Als Marcel nach Kriegsende nach Paris zurückkehrt, ist er bereits ein alternder
Mann. In Paris angekommen findet er eine Einladung zu einer Matinee bei den
Guermantes vor, der er folgen will. Es ist ein Zufall, der Marcel zum Geheimnis der
Erinnerung und damit zugleich an die Schwelle seiner Wiedergeburt und seiner
Berufung zum Schriftsteller führt. Als er, schon im Hof der Guermantes, beim Aus-
weichen vor einem heranfahrenden Automobil über eine unebene Steinplatte fast zu
Fall kommt, durchströmt ihn plötzlich ein intensives Glücksgefühl wie ernst, als er
die in Lindenblütentee getauchte Madeleine aß und sich ihm plötzlich die Welt von
Combray öffnete. Jetzt aber will er das Geheimnis des Glücks ergründen, das ihm
damals verschlossen blieb. Marcel erkennt, daß sich im Augenblick des Strauchelns
die Erinnerung von Venedig melden will, die eben noch so leblos wie eine Photo-
graphie war und jetzt in der ganzen Fülle ihrer Verweisungen und Analogien gegen-
wärtig wird, und zwar ausgelöst von einem unscheinbaren Detail, der Unebenheit
zweier Steinplatten im Baptisterium von San Marco. Erst diese neue Illumination
wird zum Tor der Erkenntnis und damit zur Entdeckung der späten literarischen
Berufung. Was das tiefe Glück der Korrespondenzen von Einst und Jetzt bewirkt ist
die Aufhebung der Irreversibilität der Zeit, das Bewußtsein, wie beim Hören von
Musik für einen Augenblick aus der Zeit herausgetreten, zum „außerzeitlichen
Wesen“ geworden zu sein: „Eine von der Ordnung der Zeit befreite Minute hat in
uns, um sie zu empfinden, den von der Ordnung der Zeit befreiten Menschen
gemacht“17. Erst indem Gegenwart und Vergangenheit sich zu einer imaginären
Überwirklichkeit des Bewußtseins zusammenschließen, kann die Gegenwart zur
Metapher der Vergangenheit, die Vergangenheit zur Metapher der Gegenwart wer-
den. Erst die Erinnerung schafft, wie die Musik, eine Wirklichkeit jenseits der Zeit.
Wenn aber die tiefste Erfahrung der Erinnerung ihre Außerzeitlichkeit ist,
dann zeigt sich die tiefe Verwandtschaft der Erinnerung mit dem Kunstwerk, das
auch als Zeitkunstwerk durch die Immanenz seinerVerweisungen der Zeit prinzipi-
ell entzogen ist. Die syntaktische Struktur des Werks, die das Einzelne seiner Einzel-
heit enthebt und in einer höheren Ordnung aufhebt, ist der von Marcel entdeckten
analogen Struktur der Erinnerung zutiefst verwandt. Bedeutet dies dann aber nicht,

17 Une minute affranchie de l’ordre du temps a recree en nous pour la sentir l’homme affranchi de
l’ordre du temps.
 
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