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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Jahresfeier am 21. Mai 2005
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Stierle, Karlheinz: Zeitgestalten - Figurationen der Zeitlichkeit in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0034
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21. Mai 2005

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daß die Erinnerung, um wahrhaft außerzeitlich zu werden, Kunstwerk werden muß?
Dies zumindest ist die Folgerung, die Marcel aus seiner Erfahrung zieht und die ihm
zugleich das lange gesuchte und verkannte Thema seines Werks aufgibt. So wäre also
nicht die Zeit, sondern die Errettung von der Zeit in der subjektiven Außerzeitlich-
keit des Bewußtseins Marcels eigentliches, so lange gesuchtes Thema?
Mit der Entdeckung seiner Berufung zu einer Poesie der Erinnerung hat die
Matinee der Guermantes aber noch nicht ihren Abschluß gefunden. Nachdem die
musikalische Matinee beendet ist, während der Marcel in der Bibliothek wartend
den Gedanken nachhängt, die die Entdeckung der innersten Wirklichkeit der Erin-
nerung in ihm ausgelöst haben, tritt er in den Salon und erlebt einen Höllensturz in
die Zeit. Denn die Gesichter, die sich ihm zuwenden, sind von Alter und Hinfällig-
keit tief gezeichnet, es sind Zeitgestalten, Gestalten der Zeitverfallenheit in ihrer eng-
sten Bedeutung. Noch nie ist je zuvor das menschliche Gesicht so erbarmungslos als
eine Landschaft abgelagerter, sich überlagernder Zeiten beschrieben worden. Die
grausame Karikatur des Alters tritt umso schneidender hervor, als Marcel, die langen
Jahre seiner Abwesenheit vergessend, dessen nicht gewahr ist, wie sehr das Alter ihn
selbst schon gezeichnet hat.
Marcels Panoptikum des Alters ist ein triumphus temporis im Sinne der spät-
mittelalterlichen allegorischen Trionfi Francesco Petrarcas. Es ist nicht ausgeschlossen,
daß Proust Illuminationen zu Petrarcas Triumphus temporis vor Augen hatte, die die
wenig zuvor erschienene Luxusausgabe der von Prince d’Esslmg und Eugene Münz
verfaßten großen Petrarca-Monographie enthielt, die 1902 in Paris erschienen war
und Proust sicher nicht unbekannt geblieben ist. In diesem Pandämonium der Zeit
erscheint jetzt Odette Swann in ihrer wahren Gestalt als ein zeitloses Schattenwesen,
dessen Züge sich in einer unveränderten leblosen Jugendlichkeit erhalten haben.
Auf den Triumphus temporis folgt bei Petrarca ein Triumphus etemitatis, der mehr
noch ein Triumph des poetischen Werks sein soll. Auch Prousts Triumph der Ewig-
keit ist ein Triumph des Werks, der erst den subjektiven Triumph der Ewigkeit auf
Dauer stellen kann. Aber kann dies Werk sich gegen die Zeit und ihre Macht
behaupten, die die Erfahrung der Außerzeitlichkeit sogleich so radikal in Frage stellt?
„(...) ich entdeckte diese zerstörerische Tätigkeit der Zeit im selben Augenblick, wo
ich mich anschickte, in einem Kunstwerk außerzeitliche Wirklichkeiten klar und
zugänglich zu machen“18. Kann das Werk beides umfassen, Zeitverfallenheit und
Zeitenthobenheit? Kann das Werk im Medium der Zeit sich der Zeit entheben und
dennoch gerade so die Zeit in ihren Zeitgestalten zur Anschauung bringen? Dies zu
wagen wird fortan das ungeheuere Projekt Marcels sein:
Ohne Zweifel konnte die grausame Entdeckung, die ich soeben gemacht
hatte, mir nur von Nutzen sein, was den Gegenstand meines Buchs betraf. Da

18 (...) je decouvrais cette action destructrice du Temps au moment meine oü je voulais entre-
prendre de rendre claires, d’intellectualiser dans une ceuvre d’art, des realites extra-temporelles.
IV, 508 f.
 
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