21. Mai 2005
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Nacht der Verzweiflung, als sich Marcels Verdacht zu bestätigen scheint, fuhrt zum
überstürzten Aufbruch nach Paris und Marcels Wunsch, dort mit Albertine ein dau-
erndes gemeinsames Leben zu führen. Damit treten wir, im Inneren von Paris, in ein
neues Zeitgehäuse ein.
Marcels rücksichtslos egozentrischer Traum ist ein gemeinsames Leben mit
Albertine in zwei angrenzenden Zimmern, so daß sie jederzeit, wie die Großmutter
in Balbec, herbeirufbar wäre. Aber die „Gefangene“ unterwirft sich nur scheinbar
dem Ritual der von Marcel auferlegten habitude. Marcel, der Albertine in einen
Kokon der Gewohnheit einspinnen will, macht sie zur Gefangenen ihrer unersätt-
lichen Begierde nach Luxus, wie er sich selbst zum Gefangenen seiner Gefangenen
macht. Dennoch bleibt Albertine die Flüchtige, Göttin der Zeit als Erscheinung des
reinen Jetzt, wie einst, als sie ihm wie die Inkarnation des bewegten Meeres erschie-
nen war. Wie einst die „petite bande“ das Bild ihrer ungreifbaren Vielfältigkeit war,
so zerfällt sie jetzt in hundert Albertinen, deren subtile Fluchten und Strategien des
Lasters Marcel zum traurigen imaginären Pascha eines verlassenen Harems macht.
Statt der erhofften Kontinuität der Gewohnheit reißt die Zeit in eine schmerzhafte
Folge inkohärenter Jetztmomente des Verdachts auseinander. Im schmerzenden Licht
der Eifersucht kehrt der uralte Schrecken des Jetzt und seiner fatalen Isolation
zurück.
Im Augenblick der tiefsten Verfallenheit an die Zeit und ihre meergeborene
Göttin Albertine erfährt Marcel aber mit der Hellsicht des Schmerzes, der Hellsich-
tigkeit über den Schmerz hinaus erzeugt, in der Musik die tiefste Erfahrung der Ret-
tung aus der Zeit. Musik, diese Einsicht wird Marcel insbesondere an den Werken
des Komponisten Vinteuil und vor allem seinem genialen Septuor zuteil, ist Ent-
hebung aus der Zeit im Medium der Zeit selbst. Das etre extratemporel16, das über-
natürliche Wesen, der erklingenden Musik ist em Wesen der zeitlichen Unbelang-
barkeit, weil jeder erklingende Augenblick nicht isoliert für sich selbst steht, sondern
in Korrespondenzen eingeht, die nicht wären, wäre dem musikalischen Werk nicht
seine Ermnerbarkeit, eine Mnemotechnik seiner selbst eingeschrieben. Nach dem
Maler Elstir ist der Komponist Vinteuil Marcels eigentlicher Lehrmeister der Erin-
nerung, der die Einsicht in sein unveräußerliches eigenes poetisches Vermögen vor-
bereitet. Mit Albertines Flucht und Tod bricht das prekäre Zeitgehäuse zusammen,
und Marcel gibt sich verzweifelt den unerlösten Bildern seiner Eifersucht hin, ehe
sein Schmerz langsam verklingt.
Jetzt, wo Marcel an Albertine nicht mehr gebunden ist, kann er endlich mit der
Mutter die Reise nach Venedig machen, von der er seit seiner Kindheit geträumt hat.
Venedig wird in der Erfahrung Marcels erneut eine Zeitgestalt, ja es ist die Raum
gewordene Zeitgestalt schlechthin, die als steinerner Palimpsest in sich alle Vergan-
genheiten Marcels zusammenfaßt. Die Aura der Stadt, ihre besondere Erinnerungs-
dichte, verdankt sich wesentlich der Präsenz der Kunst, ja die ganze Stadt selbst
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IV, 450.
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Nacht der Verzweiflung, als sich Marcels Verdacht zu bestätigen scheint, fuhrt zum
überstürzten Aufbruch nach Paris und Marcels Wunsch, dort mit Albertine ein dau-
erndes gemeinsames Leben zu führen. Damit treten wir, im Inneren von Paris, in ein
neues Zeitgehäuse ein.
Marcels rücksichtslos egozentrischer Traum ist ein gemeinsames Leben mit
Albertine in zwei angrenzenden Zimmern, so daß sie jederzeit, wie die Großmutter
in Balbec, herbeirufbar wäre. Aber die „Gefangene“ unterwirft sich nur scheinbar
dem Ritual der von Marcel auferlegten habitude. Marcel, der Albertine in einen
Kokon der Gewohnheit einspinnen will, macht sie zur Gefangenen ihrer unersätt-
lichen Begierde nach Luxus, wie er sich selbst zum Gefangenen seiner Gefangenen
macht. Dennoch bleibt Albertine die Flüchtige, Göttin der Zeit als Erscheinung des
reinen Jetzt, wie einst, als sie ihm wie die Inkarnation des bewegten Meeres erschie-
nen war. Wie einst die „petite bande“ das Bild ihrer ungreifbaren Vielfältigkeit war,
so zerfällt sie jetzt in hundert Albertinen, deren subtile Fluchten und Strategien des
Lasters Marcel zum traurigen imaginären Pascha eines verlassenen Harems macht.
Statt der erhofften Kontinuität der Gewohnheit reißt die Zeit in eine schmerzhafte
Folge inkohärenter Jetztmomente des Verdachts auseinander. Im schmerzenden Licht
der Eifersucht kehrt der uralte Schrecken des Jetzt und seiner fatalen Isolation
zurück.
Im Augenblick der tiefsten Verfallenheit an die Zeit und ihre meergeborene
Göttin Albertine erfährt Marcel aber mit der Hellsicht des Schmerzes, der Hellsich-
tigkeit über den Schmerz hinaus erzeugt, in der Musik die tiefste Erfahrung der Ret-
tung aus der Zeit. Musik, diese Einsicht wird Marcel insbesondere an den Werken
des Komponisten Vinteuil und vor allem seinem genialen Septuor zuteil, ist Ent-
hebung aus der Zeit im Medium der Zeit selbst. Das etre extratemporel16, das über-
natürliche Wesen, der erklingenden Musik ist em Wesen der zeitlichen Unbelang-
barkeit, weil jeder erklingende Augenblick nicht isoliert für sich selbst steht, sondern
in Korrespondenzen eingeht, die nicht wären, wäre dem musikalischen Werk nicht
seine Ermnerbarkeit, eine Mnemotechnik seiner selbst eingeschrieben. Nach dem
Maler Elstir ist der Komponist Vinteuil Marcels eigentlicher Lehrmeister der Erin-
nerung, der die Einsicht in sein unveräußerliches eigenes poetisches Vermögen vor-
bereitet. Mit Albertines Flucht und Tod bricht das prekäre Zeitgehäuse zusammen,
und Marcel gibt sich verzweifelt den unerlösten Bildern seiner Eifersucht hin, ehe
sein Schmerz langsam verklingt.
Jetzt, wo Marcel an Albertine nicht mehr gebunden ist, kann er endlich mit der
Mutter die Reise nach Venedig machen, von der er seit seiner Kindheit geträumt hat.
Venedig wird in der Erfahrung Marcels erneut eine Zeitgestalt, ja es ist die Raum
gewordene Zeitgestalt schlechthin, die als steinerner Palimpsest in sich alle Vergan-
genheiten Marcels zusammenfaßt. Die Aura der Stadt, ihre besondere Erinnerungs-
dichte, verdankt sich wesentlich der Präsenz der Kunst, ja die ganze Stadt selbst
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IV, 450.