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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Öffentliche Gesamtsitzung in Freiburg am 22. Oktober 2005
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Wenzel, Friedemann: Das Erdbeben von 1755 - Ursachen, Schäden, Bedeutung heute
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0078
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22. Oktober 2005 | 91

FRIEDEMANN WENZEL: „DAS ERDBEBEN VON 1755 -
URSACHEN, SCHÄDEN, BEDEUTUNG HEUTE"
Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, als Folge eines Bruchs der Erd-
kruste, der vermutlich 250 km vor der portugiesischen Küste im Atlantik erfolgte, ist
aus verschiedenen Blickwinkeln von herausragender Bedeutung. Zunächst repräsen-
tiert es mit einer geschätzten Magnitude von 8.6 das stärkste historisch dokumen-
tierte Erdbeben Europas, das weite Teile der iberischen Halbinsel und Nordafrikas
erschütterte und die zugehörigen Küsten mit den Fluten des ausgelösten Tsunamis
überschwemmte.
Entscheidend für die Tatsache, dass dieses Ereignis Teil des kulturellen Gedächt-
nisses Europas wurde, ist jedoch der Umstand, dass es intensive Reverberationen in
der intellektuellen Elite Europas auslöste. Die Leibniz sehe Vorstellung, man lebe in
der Besten aller Welten (Theodizee), war angesichts des Ausmaßes der Katastrophe
nicht mehr haltbar. Der Versuch, göttliche Weltordnung und rational erkennbare
Naturgesetze spekulativ zu verknüpfen, wurde zu Gunsten einer Trennung dieser
Kategorien in Theologie und Naturwissenschaft aufgegeben. Zumindest wurde die-
ser Prozess in Folge des Bebens beschleunigt. Besonders deutlich wird dieser
Umstand im Werk Immanuel Kants, für das Svend E. Larsen nachweist, dass nach
1755 die empirischen Naturwissenschaften die spekulativen Komponenten in Kants
Denken vollständig verdrängten. Die geistigen Wellen waren auf lange Sicht gesehen
mindestens ebenso wirksam wie die elastischen und Wasser-Wellen, die die Zer-
störungen verursachten.
Ein weiterer besonderer Umstand des Bebens ist seine Charakterisierung als
urbane Katastrophe, die eine der großen und wachsenden Städte Europas traf. Bei
einer Bevölkerung Lissabons von 275.000 bedeuten 30.000 bis 60.000 Tote und ca.
drei- bis fünfmal soviel Verletzte, dass jeder in der Stadt und Umgebung betroffen
war. Zwei Drittel der Straßen waren unbenutzbar, 17.000 Gebäude zerstört oder
schwer beschädigt worden und 35 von 40 Gemeindekirchen kollabierten. Damit
wirkt Lissabon 1755 als Vorbote kommender urbaner Katastrophen. Das Zwanzigste
Jahrhundert hat drei solcher extremen Ereignisse gesehen. 1908 wurde Messina zer-
stört und mehr als 100.000 Tote waren zu beklagen. 1923 vernichteten Erdstöße und
vor allem das folgende Feuer Tokio mit 143.000 Toten, und 1976 kostete das Beben
vonTangshan, nicht weit von Beijing, zwischen 250.000 und 400.000 Opfer in einer
völlig verwüsteten Industriestadt. Vor dem Hintergrund wachsender Urbanisierung
insbesondere der sich entwickelnden Welt (2015 werden 60% der Menschheit in
Städten wohnen) muss befürchtet werden, dass Lissabon 1755 den Anfang einer leid-
vollen Entwicklung urbaner Katastrophen darstellt, die sich in den kommenden Jahr-
zehnten zwangsläufig häufen werden.
Als Ereignis, in einer zunehmend von rationalem Denken geprägten Gesell-
schaft, die Katastrophen nicht mehr als Akt Gottes verstand, kann der Zeitpunkt des
Erdbebens von Lissabon auch als Geburtsstunde eines rationalen Katastrophenmana-
gements betrachtet werden. Zwar wurden schon früher Abwehrmaßnahmen gegen
Naturkatastrophen, etwa in Form von Dämmen und Deichen gegen Hochwasser
 
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