Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2005
DOI Kapitel:
Wissenschaftliche Sitzungen
DOI Kapitel:
Öffentliche Gesamtsitzung in Freiburg am 22. Oktober 2005
DOI Artikel:
Kühlmann, Wilhelm: Das Erdbeben von Lissabon als literarisches Ereignis: Johann Peter Uz' Gedicht "Das Erdbeben im historisch-epochalen Kontext"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0080
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
22. Oktober 2005

93

bildgebundener Kommunikationsvorgänge und für die Dynamik kultureller Hand-
lungsmuster in der Mitte des 18. Jahrhunderts, damit aber auch für die Erforschung
literarischer Öffentlichkeit in der Koexistenz verschiedener Diskurse, Theorieberei-
che, Mentalitäten und sozialer Gruppen bzw. Institutionen. Der Vortrag verfolgt so
den Weg von der primären Nachrichtenvermittlung in Korrespondentenberichten,
Flugblättern (mit Text-Bild-Kombinationen) und ‘Ereignisliedern’ bis hm zur kom-
plexen Verarbeitungsmustern in den Werken literarisch-ästhetischen, wissenschaft-
hch-explizierenden oder religiös bzw. philosophisch argumentierenden Zuschnitts.
Das Nacheinander kultureller Prozesse wird so in ein strukturell definierbares Mit-
einander von Diskursen, Textformen und Artikulationsmodalitäten überfuhrt. Die
immer wieder zitierten Stimmen der bekannten Kommentatoren (Goethe,Voltaire,
Rousseau, Kant) gehören zu einer weitaus größeren publizistischen Formation. In
empirischer Analyse läßt sich feststellen: Zwar erweist sich die Ausstrahlung der dies-
bezüglichen, mit dem Theodizee-Problem stichwortig zu rekapitulierenden Diskus-
sion als unbestreitbar, trifft jedoch keineswegs die ganze Bandbreite des Katastro-
phen-Diskurses. Zu wenig wurde bisher bedacht, daß die Naturkatastrophe in ihren
Folgen zugleich eine Ausnahmesituation des menschlichen Miteinanders darstellte,
in dem jenseits kultureller und zivilisatorischer Überformungen die Frage nach der
Reichweite moralischer und anthropologischer Maximen, Sinnforderungen oder
Postulate zu überprüfen war. Es verdient Aufmerksamkeit, daß ebenfalls etwa zeit-
gleich mit den Lissaboner Ereignissen in Leipzig Francis Hutchesons Sittenlehre der
Vernunft erschien, von Lessing übersetzt, und damit das Programm der natürlichen
Sittlichkeit — wie etwa gleichzeitig bei Gellert — ebenso nachdrücklich verkündet
wurde wie (mutatis mutandis) in Rousseaus Discours sur l'origine et les fondements de
l'inegalite parmi les hommes (1755). Die von der Naturkatastrophe betroffene Sozietät
oder Mentalität aber sah sich auf dem Wege empfindsamer ‘Codierung’ vonTugend-
postulaten mit ihrem eigenen vorzivilisatorischen Potential konfrontiert, und in die-
ser Herausforderung lag einer der Antriebe für die Ausdifferenzierung von Diskur-
sen abseits der Theodizee-Problematik, lag auch ein wichtiger Anstoß, das Unerhör-
te der Katastrophe mit literarischer Phantasie zu gestalten und zu problematisieren.
Nicht der naturkundliche oder naturphilosophische, auch nicht der theologische
Diskurs allein bestimmte die literarische Bewältigung des Lissaboner Geschehens,
sondern auch der anthropologische und moralische Diskurs — und dies in jeweils zu
beobachtender Interferenz und text- bzw. gattungsgebundener Disposition.
Dies wird in mehreren Beispielen vor allem derVersdichtung dargelegt. Christ-
lich-empfindsame Dichtungen der Klopstock-Nachfolge traten an die Seite von
Werken, die in theologisch gebundener Protreptik und manchmal mit quasi-apoka-
lyptischem Unterton oftmals auch das geographische oder das kultur- und natur-
kundliche Interesse der Leser bedienten. Eher eine Ausnahme bilden Werke wie das
lmTitel genannte Gedicht des aufklärerischen Autors Johann Peter Uz (1720—1796).
Es verrät nichts von der seraphischen Poetenfrömmigkeit Klopstocks, erst recht
nichts von der forcierten Bußpropaganda der Kondolenz- und Katechetenlyrik. Es
ist, als ob Uz sich an die nüchterne und fast befremdliche Feststellung halten wollte,
wie sie der befreundete Berliner Klassizist Karl Wilhelm Ramler (1725—1798) in
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften