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SITZUNGEN
einem Brief an Gleim formulierte (20.1.1756): „Das Erdbeben geht uns Poeten
nichts an. Wir sind es ja, die da sagen: Si fractus illabatur.“ In der Tat, der berühmte
Vers der Horazischen ‘Römerode’ (carm. 3, 3, 7) bildet das verborgene Fazit der
Uzschen-Verse. Uz vermeidet es hier, wider „Trübsal“ und die von Ramler bekun-
dete Lissabon-„Melancholie“ jenen Glauben an die göttliche Weltordnung anklin-
gen zu lassen, wie sie sein einige Zeit vorher entstandenes Lehrgedicht über die
Leibnizsche Theodicee feierlich bekräftigt hatte. Auch philosophisch modernisierte
Formen des geistlichen Lieds bleiben außer Betracht. Gleim, der Freund, stimmte
sich darin auf den alten Wir-Ton des Gemeindegesangs ein, als er Nach dem Erdbeben
zu Lissabon auf seine Art Gottes Zuverlässigkeit verkündete.
Wie Uz wehrt sich auch Gleim gegen „Furcht“, „Schrecken“ und „Angst-
geschrei“. Aussagen, die in diesem Gedicht lebensweltliche Relevanz annehmen,
bedürfen aber offensichtlich nicht des theologischen Beistands, konstituieren sich
abseits frommer Rückbesinnung. Hier rückt wie in weiten Teilen des Uzschen
CEuvres Moralisches, also die Verbindlichkeit von Tugendhaltungen, rücken einige
wenige Maximen der Lebensführung in den Mittelpunkt. Sie tragen das Gepräge
sittlicher Autonomie und Ataraxie, wie sie — als ‘Handlungstheorie’ durchaus elitär —
in der antiken Lebensphilosophie formuliert waren, die nicht nach den Zehn Ge-
boten als ‘theonomer Sollensethik’ fragte, sondern nach den Bedingungen und
sittlichen Implikationen des individuellen Glücks. Unter den Dichtern war es vor
allem Horaz, den Uz feierte, weil er in der philosophischen Poesie des römischen
Klassikers immer von neuem jene ratio vivendi bedacht fand, die sich auf Deutsch
mit Wissenschaft zu leben übersetzen ließ. Wie in vielen Gedichten des Horaz wur-
den hier Freude, Weisheit und Glück durchaus vor dunklen Hintergründen reha-
bilitiert, auch mit dem Eingeständnis, daß sich die Welt nicht den eigenen Plänen
fügt.
So verwundert es nicht, daß literarisches Hantieren mit Angst und Schrecken
in der Optik des Lissabon-Gedichtes zu einem Stimmengewirr gehörte, in dem Uz
Ärgeres entdeckt als in der Unglücksnachricht. Christliche Zerknirschung, die fun-
damentalen anthropologischen und kosmologischen Prämissen des Uzschen Den-
kens entgegensteht, also die erste Welle der geistlichen Lissabon-Literatur, verrät
demgemäß psycho-physische Defekte: krankhafte Melancholie und vernunftlose
„Schwärmerei“. Sie gedeihen in einer Nacht des Geistes, in welcher der „Uhu“ aus-
fliegt, um seine Erweckungsrufe ertönen zu lassen. Indem Uz nach und nach den
Text auf die Opposition von Hell und Dunkel, Nacht und Tag polarisiert, zielt er auf
dogmatische Gehalte der Bußpredigten, jenen Gehalt des „Aberglaubens“, von dem
er — so andernorts — das wahre Christentum gereinigt haben möchte. Kritik des
„Schwärmertums“ und Streit gegen den Aberglauben signieren den rationalistischen
Fundus des Uzschen Denkens und berufen verbreitete Diskurse aufklärerischer
Revisionsanstrengungen. Zugleich geht es im Anflug sarkastischen Humors um die
Wirkungslosigkeit der nur momentane Erregungen ausnutzenden Literatur. Laster-
hafte „Wollust“, also ein falscher, von mäßigender und steuernder Ratio unbeein-
flußter, besinnungsloser Affekthabitus, läßt sich zwar erschrecken, verfehlt jedoch die
fraglose Koinzidenz von Glück und Sittlichkeit.
SITZUNGEN
einem Brief an Gleim formulierte (20.1.1756): „Das Erdbeben geht uns Poeten
nichts an. Wir sind es ja, die da sagen: Si fractus illabatur.“ In der Tat, der berühmte
Vers der Horazischen ‘Römerode’ (carm. 3, 3, 7) bildet das verborgene Fazit der
Uzschen-Verse. Uz vermeidet es hier, wider „Trübsal“ und die von Ramler bekun-
dete Lissabon-„Melancholie“ jenen Glauben an die göttliche Weltordnung anklin-
gen zu lassen, wie sie sein einige Zeit vorher entstandenes Lehrgedicht über die
Leibnizsche Theodicee feierlich bekräftigt hatte. Auch philosophisch modernisierte
Formen des geistlichen Lieds bleiben außer Betracht. Gleim, der Freund, stimmte
sich darin auf den alten Wir-Ton des Gemeindegesangs ein, als er Nach dem Erdbeben
zu Lissabon auf seine Art Gottes Zuverlässigkeit verkündete.
Wie Uz wehrt sich auch Gleim gegen „Furcht“, „Schrecken“ und „Angst-
geschrei“. Aussagen, die in diesem Gedicht lebensweltliche Relevanz annehmen,
bedürfen aber offensichtlich nicht des theologischen Beistands, konstituieren sich
abseits frommer Rückbesinnung. Hier rückt wie in weiten Teilen des Uzschen
CEuvres Moralisches, also die Verbindlichkeit von Tugendhaltungen, rücken einige
wenige Maximen der Lebensführung in den Mittelpunkt. Sie tragen das Gepräge
sittlicher Autonomie und Ataraxie, wie sie — als ‘Handlungstheorie’ durchaus elitär —
in der antiken Lebensphilosophie formuliert waren, die nicht nach den Zehn Ge-
boten als ‘theonomer Sollensethik’ fragte, sondern nach den Bedingungen und
sittlichen Implikationen des individuellen Glücks. Unter den Dichtern war es vor
allem Horaz, den Uz feierte, weil er in der philosophischen Poesie des römischen
Klassikers immer von neuem jene ratio vivendi bedacht fand, die sich auf Deutsch
mit Wissenschaft zu leben übersetzen ließ. Wie in vielen Gedichten des Horaz wur-
den hier Freude, Weisheit und Glück durchaus vor dunklen Hintergründen reha-
bilitiert, auch mit dem Eingeständnis, daß sich die Welt nicht den eigenen Plänen
fügt.
So verwundert es nicht, daß literarisches Hantieren mit Angst und Schrecken
in der Optik des Lissabon-Gedichtes zu einem Stimmengewirr gehörte, in dem Uz
Ärgeres entdeckt als in der Unglücksnachricht. Christliche Zerknirschung, die fun-
damentalen anthropologischen und kosmologischen Prämissen des Uzschen Den-
kens entgegensteht, also die erste Welle der geistlichen Lissabon-Literatur, verrät
demgemäß psycho-physische Defekte: krankhafte Melancholie und vernunftlose
„Schwärmerei“. Sie gedeihen in einer Nacht des Geistes, in welcher der „Uhu“ aus-
fliegt, um seine Erweckungsrufe ertönen zu lassen. Indem Uz nach und nach den
Text auf die Opposition von Hell und Dunkel, Nacht und Tag polarisiert, zielt er auf
dogmatische Gehalte der Bußpredigten, jenen Gehalt des „Aberglaubens“, von dem
er — so andernorts — das wahre Christentum gereinigt haben möchte. Kritik des
„Schwärmertums“ und Streit gegen den Aberglauben signieren den rationalistischen
Fundus des Uzschen Denkens und berufen verbreitete Diskurse aufklärerischer
Revisionsanstrengungen. Zugleich geht es im Anflug sarkastischen Humors um die
Wirkungslosigkeit der nur momentane Erregungen ausnutzenden Literatur. Laster-
hafte „Wollust“, also ein falscher, von mäßigender und steuernder Ratio unbeein-
flußter, besinnungsloser Affekthabitus, läßt sich zwar erschrecken, verfehlt jedoch die
fraglose Koinzidenz von Glück und Sittlichkeit.