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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Öffentliche Gesamtsitzung in Freiburg am 22. Oktober 2005
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Kühlmann, Wilhelm: Das Erdbeben von Lissabon als literarisches Ereignis: Johann Peter Uz' Gedicht "Das Erdbeben im historisch-epochalen Kontext"
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0082
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22. Oktober 2005 | 95

Uzens Vertrauen in die Kraft der Ratio kommt in der gedanklichen Bewegung
des Gedichtes selbst zum Ausdruck. Denn dessen erste Hälfte, die den Schreibanstoß
erkennen läßt, mündet in eine historisch abstrahierende Bilanz, welche mit Degout
Verfasser und Liebhaber der Bußrufe mit dem Vorwurf mangelnder psychischer Sta-
bilität belegt. Im Einzugsbereich antiker levitas erscheint hier der „leichte Pöbel“ wie
auch sonst bei Uz nicht durch soziale Markierungen ausgegrenzt, sondern durch
eine bestimmte Art des vernünftigen Lebens und die rangmäßig differenzierte Fähig-
keit, sich dieser ‘Lebensart’ bewußt zu sein. Der Umgang mit Quälendem und Widri-
gem, das die Botschaft der „Freude“ zu entkräften droht, setzt die Aktivierung von
Widerstand voraus: Widerstand gegen das, was die auf Dauer angelegte Identität des
Ichs mit dem Selbstentwurf moralischer Autonomie zerstört. Uzens Ethik versteht
sich als Haltungsethik, die sich in seinem Gesamtwerk nicht fraglos aus bloßen Ver-
standesurteilen ableiten läßt, sondern fast immer dialektisch aus der Negation ver-
fehlter Lebenspraxis bestimmt wird.
Diese und jene Formulierung klingt stoizistisch, doch wo auch immer Uz das
Leitbild des Weisen ausmalen wollte, nahm er Abstand von einem Rigorismus, dem
das „Herz“ nichts bedeutet. Freilich hat in diesem Gedicht wie in der stoizistischen
Tradition und im latenten Platonismus des Christian Wolff Tugend immer mit
Erkenntnis und mit Wissen um Wahrheit zu tun, steht demgemäß der „Thorheit“
gegenüber. Falsche Lust als „Wollust“ wird im Sinne rechter „Lust“ korrigiert: Lust,
die in die moralische Rechenschaft des Lebens integriert ist, die deshalb der Refle-
xion bedarf und die sich so als „heller Schein“, als seelische ‘Aufklärung’, bemerkbar
macht: mit dem Effekt der Zufriedenheit und Heiterkeit. Lachen und Weinen,
körperlicher Ausdruck der Affekte, sind nur insoweit verpönt, als sie auf „Fantasien“
reagieren, der Ich-Kontrolle der Ratio entgleiten. Gerade im biographischen Rück-
blick klärt Uz darüber auf, daß es beim Umgang mit den eigenen Affekten nicht um
die Demonstration philosophischer Praezepte, sondern um etwas anderes geht, das
vornehmlich, ja vielleicht ausschließlich in der Dichtung zu Wort kommen kann: Uz
erinnert an seine Initiation in das Reich der Dichtung, die unter den Auspizien Ana-
kreons und Horazens stand. Gemeint ist damit kein lebensfernes, rein artistisches
Spiel mit Sprachformeln, sondern die kreative Entdeckung, Übung, Legitimation
und ästhetische Objektivierung von Freiheit, Freude und Genuß. Es geht um die
sozialpsychologischen, geradezu diätetischen Dimensionen der aufklärerischen Ana-
kreontik. Indem Uz leicht verständliche Begriffsassoziationen kombiniert, bestätigt
er ihren Sezessionscharakter, den poetischen Auszug in ein Bewußtseinsglück, in
dem widrige Nötigungen und Urteilsschemata des Alltags aufgehoben, wenn auch
nicht vergessen sind. In der Rollenfigur des deutschen Dichters werden Musenge-
filde betreten, die in ihrer literarischen Symbolik (Hain, Ambrosia, sonst auch Buko-
lisches) zwar em gesellschaftliches Abseits andeuten, doch ein Abseits, in dem Frei-
heit und gesellige Menschenfreundlichkeit gedeihen können. Indem Uz Motive der
gerade von Horaz gepflegten sympotischen Lyrik („Saitenspiel und Wein“) aufgreift,
indem im Kreis der wissenden Leser gewiß auch die berühmten Oden nachklangen,
in denen Horaz ausdrücklich den Musen Leitung und Schutz seines Lebens verdan-
ken wollte, wird auch der Horazische Schluß des Gedichtes vorbereitet.
 
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