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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 21. Juli 2007
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Stierle, Karlheinz: Beitrag zur Diskussion "Ist Geisteswissenschaft Wissenschaft?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0078
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21. Juli 2007 91

lichkeit sondern ihrer Pragmatik als einem Insgesamt sachentsprechender und in
einer academic community reflektierter und kritisch überprüfter Vorgehensweisen.
Gerade jene Besonderheiten, die die Geisteswissenschaften zu fragwürdigen Wissen-
schaften machen, lassen sich durchaus als im Hinblick auf Erkenntnisinteresse und
Gegenstand zweckrational verteidigen. Dazu möchte ich im folgenden nur einige
thesenhaft zugespitzte Gedanken Vorbringen. Wenn sich dabei ergeben sollte, daß
Geisteswissenschaft und exakte Wissenschaften sich so grundlegend unterscheiden,
daß ein übergreifender Wissenschaftsbegriff entweder so allgemein gefaßt werden
muß, daß er gerade das nicht mehr greift, was das Wissenschaftliche an der Wissen-
schaft ausmacht oder aber wesentliche Aspekte der Geisteswissenschaft als irrational
und unwissenschaftlich ausgrenzen muß, scheint mir, daß sich im ernst die Frage
stellt, ob der Begriff der Geisteswissenschaft für jene Disziplinen, die sich darunter
verstehen oder die darunter verstanden werden, sich nicht eher als ein Danaerge-
schenk erwiesen hat. Ich gestehe, daß mir selbst der alte Begriff des Studium für den
überwiegenden Bereich der Geisteswissenschaften brauchbarer zu sein schiene als
der Begriff der Geisteswissenschaft.
Studium setzt Partizipation voraus, ja pointiert ließe sich sagen: es gibt kein
Studium ohne Partizipation — es gibt keine Wissenschaft mit Partizipation. Der
Geisteswissenschaftler sucht Teilhabe an seinem Gegenstand und er sucht Teilhabe zu
ermöglichen. Seme Aufgabe ist in dieser Hinsicht wesentlich die eines Mittlers. Teil-
habe ist freilich nicht bloß enthusiastische Identifikation sondern durch Kompetenz,
Disziplin und Kritik reflexiv gewordene Teilhabe. Der Philosoph, der Theologe, der
Philologe, der Historiker betrachten ihre Sache nicht aus objektiver Distanz, sie ste-
hen im Dienst der Sache und ihrer Vermittlung. Zwar kann der Naturwissenschaft-
ler etwas als Ökologe sich in den Dienst der Natur stellen, aber die Natur bleibt den-
noch wesentlich sein Objekt. Dagegen steht der Theologe bei aller reflexiver Distanz
im Dienst der Theologie, der Jurist im Dienst des Rechts, der Philologe im Dienst
der Literatur. Ganz besonders für die Buchwissenschaften gilt, daß diese prinzipiell
ohne Partizipation nicht auskommen. Das Buch wird zum Buch erst durch den
Leser, der sich selbst ms Spiel bringt. Und auch bei größter wissenschaftlicher Aske-
se bleibt dies unumgänglich. Jeder Text setzt eine Sprache voraus, die nicht mit ihm
identisch ist und die der Leser hinzubringen muß. Nur in ihrem Horizont der Mög-
lichkeiten kann er die Dezisionen ermessen, die den Rang des Textes ausmachen.
Jeder Text ist so em Feld unendlicher Kommentierbarkeit. Weder die eigene Sprache
noch gar eine fremde und umso mehr eine vergangene fremde sind einfach gege-
ben, sie müssen in einem nie endenden Prozeß erworben werden. In den elementa-
ren hermeneutischen Zirkel von Sprache und Rede ist jeder Leser, aber auch jeder
Geisteswissenschaftler unentrinnbar verstrickt. Die Bewegung in diesem Zirkel führt
nicht zu einem unumstößlichen endgültigen Resultat sondern zu einer Erweiterung
des Bewußtseins, zu Formen eines komplexeren, farbigeren, reicheren Inneseins. Die
Auslegung schriftlicher Zeugnisse bleibt eine der zentralen Aufgaben der Geistes-
wissenschaft, die nie an ein Ende kommen kann, weil sich ihre Aufgabe unter immer
neuen Voraussetzungen stellt. In jedem Augenblick muß dem Vergessen die kulturelle
Kohärenz erst abgerungen werden.
 
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